Je mehr ich dir gebe (German Edition)
Kuchen. Sie ruft Kolja an – genau in dem Moment klingelt das Telefon. Julia schaut auf das Display. Die dort angezeigte Nummer kennt sie nicht.
»Hallo?«
»Hallo, hier ist Anne. – Stör ich gerade?«
»N-nein.«
»Hast du Zeit? Wollen wir uns treffen?«
Warum will Anne sich noch mal mit ihr treffen? Julia zögert. »Heute ist es schlecht, ich habe schon eine Verabredung.«
»Mit Kolja?«
»Nein«, lügt sie. – Was geht das Anne an!
»Wie geht es dir denn?«
Was soll sie sagen? – Den Umständen entsprechend?
»Ganz gut. Und dir?«
»Hab viel zu tun.«
»Mit deiner Ausbildung?«
»Ja. – Übrigens, ich wollte dich letztens nicht so erschrecken.«
»Du hast mich nicht erschreckt.«
»Warum bist du dann so schnell abgehauen, nachdem ich dir von den Sitzungen erzählt habe?«
»Es tut mir leid, aber mir wird manchmal plötzlich alles zu viel. Ich habe mich irgendwie nicht richtig im Griff.« – Was redet sie da? Sie braucht sich doch nicht zu rechtfertigen.
»Das ist ja ganz normal«, sagt Anne wie eine Psychologin. »Du brauchst Zeit und Hilfe. Ich könnte dir wirklich helfen.«
»Womit?«
»Jonas wiederzutreffen.«
Wie überzeugend Anne das sagt. Als gäbe es nichts Leichteres als das. Will Anne sie vielleicht nur benutzen, um Jonas selber wiederzutreffen, und braucht sie dafür Julia? Kolja hat ja gesagt, sie sei so scharf auf Jonas gewesen.
»Hat Kolja dir eigentlich erzählt, ich sei hinter Jonas hergewesen?«, fragt Anne. Julia muss schlucken. – Kann sie tatsächlich Gedanken lesen?
»Wieso?«, fragt sie vorsichtig.
»Also, ich kann dir nur sagen, dass Kolja öfter mal Scheiße erzählt. Ich war jedenfalls nie hinter Jonas her. Ich kannte ihn gar nicht, nur vom Sehen.«
Wer hier wohl Scheiße erzählt, denkt Julia, und Koljas besten Freund verleugnet!
»Julia, bist du noch dran?«
»J-ja. Aber ich muss jetzt mit meiner Mutter einkaufen gehen.«
»Okay. Viel Spaß. Du kannst mich jederzeit anrufen.«
»Warum sollte ich das?«
»Weil ich dir helfen kann. Wirklich.«
Es ist still in der Leitung. Julia sagt noch »Tschüss«, dann legt sie auf. Kaum hat sie aufgelegt, ruft Kolja an.
»Hey, du klingst bedrückt. Was ist?«
»Nichts«, sagt Julia.
»In 20 Minuten kann ich bei dir sein.«
»Nein, nein. Das ist lieb, aber ich möchte mich jetzt ein bisschen ausruhen. Komm heute Abend, okay?«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Gut. Wann denn? Ich hol dich ab.«
»Gegen acht?«
Sie schaltet ihr Handy aus und setzt sich an den Schreibtisch. Sie würde sich so gern ein paar Fotos von Jonas anschauen, wenn sie das doch nur endlich könnte. Sie hat Papierabzüge in der Schublade und welche auf dem Computer. Sie haben viele Fotos gemacht, auch Nacktfotos. Allein daran zu denken, zerreißt ihr das Herz.
Sie kann nicht länger in ihrem Zimmer bleiben, auch nicht zu Hause. Sie will auf den Friedhof. Es ist das erste Mal, dass sie zu Jonas’ Grab möchte. Bislang konnte sie auch das nicht. Obwohl sie weiß, dass Jonas nicht in dem Grab liegt, in das man seinen Nussholzsarg versenkt hat. Er ist irgendwo anders, von wo aus er in ihre Träume steigen kann wie in eine Kutsche. Dann will er zu ihr, möchte ihr was sagen. Das versucht er doch die ganze Zeit! Vielleicht kann sie ihm wenigstens am Grab ein Zeichen hinterlassen, irgendwas, damit er es noch mal versucht. Um Jonas nahe zu sein, braucht sie Anne jedenfalls nicht! Aber vielleicht um zu verstehen, was er ihr sagen will.
Sie fährt mit dem Rad, schließt es an einen Laternenpfahl neben der schmiedeeisernen Eingangspforte des Friedhofs.
In den Bäumen sitzen grau-schwarze Krähen und schauen auf sie herab. Es ist bewölkt, ein frischer Wind weht. Hier ist es kühler als in den Straßen. Das kommt von den Toten. Charly würde jetzt sagen, es kommt, weil die Häuser die Wärme speichern.
Das letzte Mal, als sie hier war, auf der Beerdigung, hat sie den Friedhof gar nicht richtig wahrgenommen, war viel zu sehr damit beschäftigt, auf den Beinen zu bleiben. Und dann hatte sie Kolja dort getroffen. Wie zärtlich er sich seitdem um sie kümmert. Er ist immer für sie da. Was würde sie nur ohne Kolja tun? Wie es wohl wäre, mit ihm zu schlafen? Reizvoll schon, denn Kolja hat was von Jonas in sich, und je mehr sie sich auf Kolja einlässt, desto mehr bekommt sie von Jonas. Ist es nicht so? Sie kann keinen klaren Gedanken darüber fassen, aber sie spürt es ganz genau.
Du musst dich spüren, Julia, deine Zehe, deinen Fuß, die
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