Je mehr ich dir gebe (German Edition)
schneller. Kolja wollte sie unbedingt fahren, aber sie wollte lieber zu Fuß gehen. Schade, dass sie nicht mit dem Fahrrad da ist. Es gibt nichts Schöneres, als durch eine warme Sommernacht zu radeln. Mit Jonas hat sie das oft gemacht. Wo wohl sein Fahrrad ist? Der laue Sommerwind weht ihr den Rock um die Beine, es ist wie Streicheln. Aus der Ferne ein Grummeln.
Was Frau Reichenberger wohl von ihr will? Gleich morgen früh wird sie sie anrufen.
Zu Hause kommt ihr Mama auf dem Flur entgegen. Im langen Snoopy -Schlaf-T-Shirt.
»Na, hast du einen schönen Abend gehabt?«, fragt sie und huscht ins Wohnzimmer.
»Ja, du auch?«
»Ja, wir haben es uns auf der Terrasse gemütlich gemacht. Bis eben.« Sie kommt mit einem Buch zurück. »Hat dich Kolja nach Hause gebracht?«
»Ja«, sagt sie, weil sie weiß, dass Mama dann besser schlafen kann, wenn sie abends nach Hause gebracht wird.
Julia nimmt sich eine Flasche Wasser und geht in ihr Zimmer. Das Fenster ist geschlossen. Wahrscheinlich hat ihre Mutter es zugemacht, weil ein Gewitter aufzieht. Julia öffnet es wieder, stellt die Flasche auf den Schreibtisch und wühlt sich durch die linke Schublade, sie findet nicht, was sie sucht, auch nicht in der rechten Schublade. Dabei hätte sie schwören können, sie hätte den Film in den Schreibtisch gelegt. Sie wühlt noch mal die linke Schublade durch. Und tatsächlich. Da ist er ja doch: Der Himmel über Berlin . Sie hält die Hülle in der Hand, mit dem Riss in der Mitte. Sie streicht mit dem Finger über den Riss, zwingt sich, ruhig zu atmen, auszuatmen.
Julia klappt das Laptop auf, fährt den Rechner hoch, legt mit zitternden Fingern die DVD ein. Dann stellt sie den Laptop auf den Stuhl und schiebt den Stuhl vor ihr Bett, stopft sich im Rücken ein paar Kissen zurecht, nimmt die Wasserflasche und startet den Film.
Berlin 1987, noch mit Mauer, Straße des 17. Juni. Ein Mann sitzt auf der Goldelse , dem Friedensengel, und beobachtet die Leute von oben. Es ist Damiel, ein Engel. Er kann nur in Schwarz-Weiß und Grau sehen und die Gedanken und Gefühle der Lebenden hören, sie jedoch nicht selbst empfinden. Als Engel hilft er den Menschen in heiklen Situationen, flüstert ihnen im richtigen Moment etwas ins Ohr, zum Beispiel, um einen Unfall zu vermeiden. Dabei bleibt er jedoch unerkannt. Nur die Kinder können ihn sehen. Wenn sie nach oben schauen, entdecken sie einen Mann, der auf dem Flügel der Goldelse sitzt, dem Engel auf der Siegessäule.
Es gibt noch mehrere Engel-Kollegen in der Stadt, die alle eine Schutzfunktion für die Menschen übernommen haben. Damiel genügt das jedoch nicht mehr, er möchte an ihrem Leben teilnehmen, mitleben, nicht immer nur unbemerkt außen vor bleiben. Aber um ins Leben überzutreten, müsste er einen hohen Preis zahlen: seine Unsterblichkeit aufgeben.
Als sich Damiel in die Trapezkünstlerin Marion verliebt, deren Schutzengel er ist, entscheidet er sich, ins Leben überzutreten. Von da an ist der Film in Farbe.
Julia sitzt da und staunt. Sie atmet, fühlt und friert. Sie kann Farben sehen, aber Jonas ist in der schwarz-weißen Welt gefangen. Er will zu ihr zurück, denn was ist schon die Unsterblichkeit, wenn man auf die Liebe verzichten muss? Ihr geht ein Licht auf. Jonas schwirrt da irgendwo zwischen zwei Welten, als Engel. Vielleicht kann er sie jetzt sogar sehen.
»Jonas?«, flüstert sie. »Jonas!«
Das Herz schlägt ihr bis an den Hals.
Sie kann den Film nicht zu Ende schauen, nimmt die DVD aus dem Computer und legt sie in die Hülle zurück. Es entspinnt sich eine wunderschöne, leise Liebesgeschichte, poetisch, musikalisch, echt – steht auf der Rückseite.
Die restliche Nacht ist ihr, als würde sie sich über einen Brunnen beugen und rufen, aber das Wasser bleibt schwarz. Niemand taucht auf, nicht mal ihr Spiegelbild. Sie weiß, dass es der falsche Weg ist, aber sie kann sich nicht umdrehen und in den Himmel rufen. Wenn sie aufwacht, reibt sie sich die Brunnenbilder aus den Augen, trinkt einen Schluck Wasser, schläft wieder ein und meint, sie sei wach. Und dann guckt sie wieder über den Brunnenrand. Im Morgengrauen ist das Wasser nicht mehr da. Auf dem Grund liegen leere Coladosen und ein Fahrrad. Es ist Jonas’ Fahrrad, total verbeult und verbogen. Der Lenker fehlt.
Völlig gerädert steht sie auf, schleppt sich ins Bad, versucht, diese Nacht wegzuduschen. Wasser prasselt auf ihren Kopf. Dabei hatte sie so gehofft, von Jonas zu träumen, ihn zu sehen, wie er
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