Je mehr ich dir gebe (German Edition)
ihre Sachen aus dem Badezimmer, die Zigaretten, die Flasche Sekt aus dem Kühlschrank. Sie zieht nur ihr Top an, gießt Sekt ein, sieht dem Schaum zu, wie er im Glas zerknistert.
»Auf Jonas«, sagt sie leise und stößt mit Kolja an.
»Auf Jonas«, sagt Kolja. Seine Augen glänzen. »Und auf uns!«
Das erste Mal seit langer Zeit hat Julia wieder Hunger. Sie könnte jetzt eine ganze Pizza verdrücken oder ein Steak oder eine Falafel von Habibi . Kolja sagt, er könne auch etwas kochen. Sie hilft ihm, Zwiebeln, Knoblauch und Tomaten zu schneiden. Er stellt Wasser für die Spaghetti auf den Herd.
»Jonas hätte jetzt Risotto mit getrockneten Steinpilzen gekocht«, sagt Kolja. Er habe auch noch Steinpilze im Haus, aber keinen Reis.
»Muss ja nicht sein«, sagt Julia. »Spaghetti hätte er auch gegessen.«
»Wollen wir für ihn mitdecken?«, fragt Kolja.
Sie sitzen sich gegenüber, Julia mit Blick auf das offene Fenster. Vögel zwitschern, mitten in Berlin. Kolja gibt ihr Spaghetti auf; die Kerze flackert. Es steht ein dritter Teller mit auf dem Tisch. Sie lassen Jonas teilnehmen am Leben.
»Wie geht es dir?«, fragt Kolja und rollt eine Nudel um die Gabel.
»Gut«, sagt Julia. – Wie lange hat sie das schon nicht mehr gesagt? Wie lange hat sie sich schon nicht mehr so gut gefühlt? Die letzten Wochen bestand sie nur aus Kopf und Gedanken, die aus dem Nest gefallen waren, wie die Schwalbenküken, die in dem einen Sommer bei ihrer Oma im Schuppen genistet hatten. Fünf Küken, direkt unter der Teerpappendecke. Der Sommer war sehr heiß gewesen, wochenlang über dreißig Grad. Unter dem Dach waren es bestimmt über fünfzig Grad. Ein Küken nach dem anderen ist aus dem Nest gefallen und die Mutter ist weiterhin mit Würmern angekommen, hat sich aufs leere Nest gesetzt, aber da war nichts mehr zum Füttern. Julia hatte mit Oma alle fünf Schwalbenkinder begraben, jedes einzelne in ein Tuch gewickelt und Gänseblümchen aufs Grab gelegt.
»Wie schön die Amsel singt«, sagt Kolja und gibt ihr noch mal Spaghetti auf. Sie essen und lauschen der Amsel, sehen sie nicht, aber wissen doch, sie ist da – irgendwo hoch oben, in der Krone vom Ahorn.
Julias fühlt etwas in sich, es sind nicht die Muskeln, nicht die Sehnen in ihr, es ist ihre Seele, die wieder in ihr aufblüht wie Mohn. Sie schaut auf Jonas’ Teller, er glänzt im Kerzenlicht. Wenn doch nur die Tür aufgehen würde und er sich an den Tisch setzte.
Sein Essen wird kalt.
KAPITEL 19
Der Himmel über Berlin
Mitternacht. Der Mond scheint. Sterne sind keine zu erkennen, dafür ist die Stadt zu hell. Julia ist auf dem Weg nach Hause. Auf ihrem Handy sind zwei Nachrichten. Erste Nachricht von Charly: Kommst du morgen mit ins Kino? Lille, Dani und Micha kommen auch. A+
A+ heißt: bis später , auf Französisch. Seitdem Charly wieder aus Paris da ist, sagt sie nur noch: a plus . Seitdem hängt Charly auch andauernd mit Lille, Dani und Micha ab. Lille und Dani sind zusammen und Micha ist schwul, geht aber mit Charly Arm in Arm über die Straße. Da kommt sich Julia überflüssig vor, als fünftes Rad am Wagen. Sie weiß auch gar nicht, was Charly daran findet, Arm in Arm mit einem Schwulen zu gehen. So kriegt sie nie einen Freund. Das muss sich auf irgendeiner Party ergeben haben, die Julia verpasst hat. Sie hat einiges abgesagt in der letzten Zeit, würde auch gern Kino für morgen absagen, doch Charly lässt nicht locker, simst, sie hole sie dann morgen um drei Uhr ab. Die Nummer der zweiten Nachricht kennt sie nicht. Wer könnte das sein? Sie wählt. Es klingelt.
»Hallo, hier ist Nathalie Reichenberger, Jonas’ Mutter.«
Pause.
»Julia, ich … wollte dich was fragen – rufst du mich bitte mal zurück? Du kannst mich jederzeit auf meiner Handynummer erreichen.«
Julia zögert, schaut auf die Uhr. Gleich halb eins. Ihre Eltern wollen nach 22 Uhr nicht mehr angerufen werden, jedenfalls nicht in der Woche. Aber Frau Reichenberger hat gesagt »jederzeit«. Was sie sie wohl fragen will? Julia geht ein paar Schritte, bleibt stehen, drückt die Wiederholungstaste, drückt dann schnell auf »Aus«, hört ihr Herz schlagen. Sie kann jetzt nicht mit Jonas’ Mutter sprechen. Was ist, wenn sie Julia fragt, wo sie gerade sei? Sie könnte ihr unmöglich sagen, dass sie gerade von Kolja käme, sie würde doch ihrer Stimme anhören, dass da was ist, dass sie mit Jonas’ bestem Freund geschlafen hat.
Der Mond scheint durch eine Wolke, sie geht einen Schritt
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