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Je mehr ich dir gebe (German Edition)

Je mehr ich dir gebe (German Edition)

Titel: Je mehr ich dir gebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Dölling
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als müsste sie zum Zahnarzt. Sie geht an der Straßenecke auf und ab. Frau Reichenberger kommt fünf Minuten zu früh, sie treffen sich vor der Eingangstür, geben sich die Hand.
    »Hallo, Julia!« Sie trägt ein schwarzes, ärmelloses Sommerkleid. Julia hat nie richtig daran gedacht, Trauer zu tragen. Oma Iris hatte ein Jahr lang nur Schwarz getragen, als der Opa starb. Auf den Tag genau. Julia hatte sich in der Zeit vor ihrer Oma gefürchtet, weil sie aussah wie ein schwarzes Gespenst.
    »Jeder muss selber wissen, ob und wie er seine Trauer zum Ausdruck bringt«, hatte Mama ihr damals erklärt. Julia überlegt, wie sie ihre Trauer zum Ausdruck bringt. Und plötzlich wird ihr bewusst, dass sie sich damit überhaupt noch nicht beschäftigt hat. Sie trauert nicht. Sie ist zu Tode betrübt, fertig, zerrissen vor Sehnsucht nach Jonas, durch Kolja getröstet, durch ihren Alltag abgelenkt, damit sie das Leid überhaupt ertragen kann. Aber wie soll sie trauern? Ob es was nützt, ganz in Schwarz rumzulaufen?
    Jonas’ Mutter sieht frisch aus, sie hat keine Ringe unter den Augen, macht nicht den Eindruck, dass sie in der letzten Zeit um zehn Jahre gealtert ist. Sie geht auch nicht gebeugt. Allerdings ist sie sehr dünn. Julia kann nicht sagen, ob sie immer schon so dünn war, sie kennt sie ja kaum. Julia jedenfalls hat abgenommen. Mindestens drei Kilo oder sogar vier.
    »Schön, dass du dir Zeit nimmst«, sagt Frau Reichenberger. »Ich wollte dich noch mal sehen, bevor wir nach Köln ziehen. Ich kann es ohne Jonas hier nicht länger ertragen.« Sie blinzelt Julia an, entschuldigt sich, dass sie ihre Sonnenbrille doch wieder aufsetzen muss, es sei so hell.
    »Kein Problem«, sagt Julia.
    »Wie geht es dir? Was macht die Schauspielerei? Du willst doch Schauspielerin werden …«
    »Eigentlich schon«, sagt Julia. Da fällt ihr ein, dass sie Herrn Lambosi noch nicht zurückgerufen hat.
    »Jonas hat mir erzählt, dass du sehr entschlossen und zielstrebig bist. Er war so stolz auf dich, dass du deinen Traum verwirklichst.« Julia muss schlucken. Sie war sich da in letzter Zeit gar nicht mehr so sicher.
    Die Bedienung bringt die Karte.
    »Möchtest du was essen, Julia?«
    »Nein, danke.«
    »Auch kein Stück Kuchen?«
    »Nein, ich nehme eine Apfelschorle mit Eis.«
    »Ja, das nehme ich auch«, sagt Frau Reichenberger und klappt die Karte zu, legt die Hände auf den Tisch und schaut Julia an. Man kann ihre Augen durch die Sonnenbrille sehen.
    »Jonas war ja eher ein Träumer.« Frau Reichenberger schmunzelt. »Ein talentierter Träumer. Ich habe mir da nicht so große Sorgen gemacht, aber mein Mann hat ihn manchmal ganz schön unter Druck gesetzt. Er wollte, dass Jonas sofort nach dem Abi anfing zu studieren, egal was. Hauptsache, nicht Rumgammeln.« Sie schaut Julia von der Seite an. »Benutzt man dieses Wort heute eigentlich noch? – Rumgammeln?«
    »Wir würden eher chillen sagen. Das hört sich nicht so negativ an.«
    Frau Reichenberg lächelt verträumt.
    »Jonas hat ganz sicher nicht rumgegammelt«, sagt Julia. »Allein wie er Gitarre gespielt hat und gesungen …«
    »Aber er hat sich nicht bemüht, daraus mehr zu machen. Oder weißt du etwas davon? Wollte er in einer Band spielen?«
    »Nein, aber da waren andere Sachen, die ihn interessierten.«
    »Er war ein sehr ästhetischer Mensch, feinfühlig. Er hatte einen Sinn für Farben und Formen. Er hat eine Zeit lang gezeichnet. Hast du seine Skizzen mal gesehen?«
    »Nein!«
    »Hat er alles ad acta gelegt. Vielleicht sogar vernichtet. Wir haben nichts Persönliches gefunden, weder zu Hause noch in seiner WG.«
    »Er wollte Speiseeis-Designer werden – oder Koch.«
    »Ja, gekocht hat er supergut! Schon als Kind stand er mit mir in der Küche und hat gelernt, wie man Gurken und Zwiebeln schneidet. Richtig professionell. Mein Mann wollte ihm den Beruf Koch ausreden und hat versucht, ihm Jura schmackhaft zu machen, hat ihm Unterlagen von den verschiedenen Hochschulen zukommen lassen, aber Jonas hat nur hübsche Stapel damit gebaut, hat die Broschüren zusammengeklebt und einen Nachttisch-Klotz damit gebastelt. Möchtest du ihn haben?«
    Julia zuckt die Schulter. Es ist komisch, mit Frau Reichenberger über Jonas zu reden.
    »Möchtest du denn noch irgendetwas von seinen Sachen haben?«
    »Vielleicht die Musik von seinem Computer. Er hatte so eine tolle Auswahl. Und noch ein paar Fotos.«
    Die Apfelschorlen kommen. Julia nimmt einen Schluck. Das Eis klimpert im Glas. Frau

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