Je mehr ich dir gebe (German Edition)
räuspert sich und wird ganz still, guckt, als würde sie sich in sich zurückziehen. Diese Stille überträgt sich, legt sich wie eine Decke über Julia, auch über die anderen, aber jede hat eine eigene Decke. Anne schaut sehr konzentriert, beobachtet alle.
Sie sollen nun die Hände bis in die Mitte des Tisches schieben, die Handflächen auf der Tischplatte, ausgebreitet, aber ohne sich gegenseitig zu berühren. Die Tischplatte ist glatt und kalt. Julia ist, als fasste ihr jemand mit einer kalten Hand in den Nacken. Eine Gänsehaut rieselt über den Rücken.
Sie sollen die Augen schließen und nichts denken, nichts grübeln, nichts wollen – einfach nur HIER SEIN, entspannt und locker am Tisch, und vor allem ruhig und regelmäßig atmen und nicht sprechen.
Und dann murmelt Kitty vor sich hin, redet sich in Trance, sagt Namen, auch Jonas’ Name ist dabei, sie spricht Englisch, dann wieder Deutsch, dann etwas, was Julia nicht versteht, aber sie kann den Worten sowieso nicht mehr folgen, ihr ist, als schaue sie hier nur zu, unbeteiligt, als wäre sie ganz woanders. Die Arme werden müde und schwer, sie würde sie gern vom Tisch nehmen, aber Kitty hat gesagt, die Hände sollen die ganze Zeit auf der Tischplatte liegen bleiben.
Julia schließt die Augen, hört ihr Herz, ihren Atem, sieht ein Feld vor sich. Alles ist hell, sie schaut gegen die Sonne, kann nichts erkennen, es ist überbelichtet, doch im Hintergrund sind Gestalten. Sie spazieren durch die Wiese, springen manchmal hoch, drehen sich – ein Tanz vor ihren Augen, die Luft flimmert; in Julias Ohren ein Flüstern, Rauschen, als raschle Wind durch Sommerlaub. Kitty sagt nichts mehr, es ist still. Nur eine Uhr tickt im Hintergrund.
Julia spürt einen Lufthauch, ihr ist, als würde Jonas durch den Raum gehen. Sie riecht auch seinen Rasierschaum, blinzelt, sieht nur die Flamme der Kerze, wie sie sich windet. Es zieht also irgendwo, obwohl alle Türen und Fenster geschlossen sind. Über die Gesichter der anderen huschen Schatten – oder was ist das? Dann steht die Kerze wieder still.
Das Herz schlägt ihr bis zum Hals; sie schließt die Augen und zwingt sich ruhig zu atmen. Ihr ist, als fahre sie U-Bahn. Das ganze Zimmer fährt mit.
Julia friert, fängt an zu zittern, aber sie darf die Arme nicht wegnehmen, sie blinzelt noch mal, sieht die Gesichter der anderen, es sind sitzend Schlafende. Es kribbelt und sticht in den Händen, den Armen. Sie versucht, es zu ignorieren, an nichts zu denken, einfach zu sein – so wie Kitty vorhin gesagt hat. Und dann verliert sie sich, weiß selber nicht, wohin. Langsam lässt das Ziehen in den Armen nach, das Zittern auch. Wärme strömt in ihre Mitte, und es kommt ihr so vor, als gehörten die Arme gar nicht mehr zu ihr, auch nicht die Beine oder der Kopf, als wäre sie nur noch ein Hauch, ein Schleier, der im Sommerwind schwebt. Und dann sieht sie mehrere Gestalten. Sie verschmelzen zu einer Gestalt, die auf sie zukommt. Mehr und mehr kann sie die Konturen erkennen, mehr und mehr strömt etwas von ihr in Julia hinein; es ist kein Zugwind, es ist leichter als Luft. Es füllt sie aus und macht sie ganz leicht. Ist es Gas – oder Glück?
Da setzt Kittys Stimme wieder ein: fest und laut, und sagt, dass nun alle an ihre Hände denken sollten, dann an ihre Handgelenke, Arme, Ellenbogen, Schultern. Dann an Brust, den Bauch, den Schoß, die Beine. Plötzlich sitzt Julia wieder auf dem Stuhl.
»Und jetzt öffnet alle die Augen!«
Kitty schaut von einer zur anderen. Niemand sagt etwas. Julia ist noch ganz benommen. Sie war eine Ewigkeit weg. Aber wo war sie? Und wer war die Gestalt – sie sieht sie noch vor sich. War es Jonas? Und was wollte er ihr sagen?
KAPITEL 29
Tote sind unterwegs
Sie sollen alle am Tisch sitzen bleiben, Wasser trinken, sich strecken. Tief durchatmen. Gähnen! Es sind gerade mal zehn Minuten vergangen. Julia kann es nicht glauben. »Ist meine Uhr kaputt?«
Kitty lacht. »Brillant! Dann warst du auf Reisen! – Und ihr, meine Lieben?« Sie schaut in die Runde. Elfriede juchzt, Simone ist immer noch so blass, sagt nichts. Kitty legt ihre Hand auf Simones Hand, sagt: »Ich habe Paul getroffen. Er hat mir gesagt, es geht ihm gut. Er möchte es dir nächstes Mal selber sagen, sobald du aufhörst, dir Sorgen um ihn zu machen. Wenn du akzeptierst, dass er da ist, wo er jetzt ist. Also, my dear , keine Sorgen und keine guilt pangs , wie sagt man …«
»Schuldgefühle«, übersetzt
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