Je mehr ich dir gebe (German Edition)
Anne.
»… genau. Also keine Schuldgefühle mehr, sonst macht er wieder einen Rückzug. Aber sobald du ihn SEIN lässt, wird er sich bei dir melden. Hast du das verstanden, sweety ?«
Simone laufen die Tränen hinab, sie presst die Lippen aufeinander und nickt tapfer.
»Und das T-Shirt, sagt er, hätte ihm besser gestanden.« Kitty zeigt auf Simones T-Shirt und lacht.
Simone zieht ihr T-Shirt glatt. Don’t waste my time steht quer über ihrer Brust. Simone kann es immer noch nicht fassen, sie schluchzt andauernd: »Ach, wie schön!«, und beteuert immer wieder, dass das tatsächlich Pauls T-Shirt sei. Das glaubt ihr Julia sofort, denn Simone sieht nicht so aus, als würde sie sonst mit solchen Fun-Shirts rumlaufen.
Anne reicht ihr eine Packung Kleenex . Simone zieht sich ein Tuch heraus, schnäuzt sich. Sie hat jetzt Farbe im Gesicht, sieht plötzlich viel frischer aus, kann es immer noch nicht fassen, was Kitty über das T-Shirt gesagt hat. Niemand wusste anscheinend, dass es das T-Shirt von ihrem Sohn war. »Das ist der Beweis, dass du ihn wirklich gesprochen hast, Kitty. Ich danke dir so sehr!«
»Ihm geht es gut! Du kannst dich entspannen, dear .« Kitty berührt ihre Wange. Simone schließt die Augen und nickt, als müsste sie es sich selbst bestätigen.
Julia kommt es vor, als schaue sie bei einer Talkshow im Fernsehen zu. Alle reden durcheinander, erzählen von sich, besonders Simone von Paul. Anscheinend ist es das erste Mal, dass sie so locker über ihren Sohn reden kann. Kitty lobt sie dafür. Zu Elfriede sagt sie, dass sie mit ihrem Kurt leider heute nicht in Kontakt getreten sei. Elfriede solle Geduld haben, bei der nächsten Sitzung sehe es bestimmt anders aus. »Du weißt ja, wie das manchmal ist.«
Dann wendet sie sich Julia zu.
»Hast du jemanden gesehen?«, fragt Kitty und streichelt ihre Hand.
»Ja«, sagt Julia, überrascht über die direkte Frage. »Aber ich habe nicht erkannt, wer es war.«
Kitty nickt wissend. »Bei euch jungen Leuten ist es oft so, dass ihr selbst Kontakt aufnehmen könnt. Ihr habt noch natürliche Antennen dafür, seid noch nicht so jaded – wie sagt man, abgestumpft, wie die meisten Erwachsenen. Und du bist sowieso hellfühlig, das habe ich sofort gespürt.« Sie macht eine kleine Pause, betrachtet Julia eindringlich und fährt dann fort: »Ich habe auch jemanden gesehen. Einen jungen Mann mit blonden Haaren. Sein Kopf war verletzt, aber er hat keine Schmerzen.« Kitty nimmt Julias Hand in ihre, hat sie fest im Blick – dieses Grün, es ist zu grün, es sticht in Julias Augen. Sie kann sich nicht mehr rühren, es ist, als hypnotisiere Kitty sie. Julia hört ihren Herzschlag in den Ohren wie Glockengeläut. Kitty spricht langsam, so wie man zu alten oder kranken Menschen spricht: »Ich sehe, er ist noch ganz neu dort, wo er ist, aber er fühlt sich wohl und er möchte nichts anderes, als dass es dir gut geht. Nur dann kann er wirklich ins Jenseits gehen und dort seine Ruhe finden. Jetzt hängst du noch zu sehr an ihm, kannst ihn noch nicht loslassen, Julia.«
Julia merkt, wie die Tränen aus ihr herauslaufen, als hätte sie irgendwo ein Leck.
Kitty spricht unbeirrt weiter:»Du kannst nicht dahin gehen, wo er ist. Nur er kann zu dir kommen. Du darfst ihn nur nicht bedrängen. Er ist bei dir und er füllt dich auf mit seiner Liebe. Du musst es nur zulassen, ihn loszulassen, damit seine Seele on the other side – im Jenseits – ankommen kann. Keine Angst, er geht dir nicht verloren.«
Julia schwirrt der Kopf. Er ist bei dir und er füllt dich auf mit seiner Liebe , klingt es in ihr nach. … er geht dir nicht verloren . – Wie ein Echo.
Julia schließt die Augen. Sie ist plötzlich so müde, alle Glieder sind ihr schwer. Sie sieht, wie ein großer, schlaffer Ballon auf einer Wiese liegt und sich langsam auffüllt und aufsteigt. Sie fühlt sich wie dieser Ballon – so hat sie sich vorhin auch gefühlt, als würde sie aufgefüllt. Jetzt weiß sie es: Es war Jonas, mit seiner Liebe!
»Und denk dran …«, sagt Kitty und schaut wieder mit diesen stechenden Hexenaugen genau in ihre, hakt sich fest, Julia hört Kittys Stimme, als käme sie hinter ihrem Rücken hervor, wie eine sprechende Puppe, die den Lautsprecher hinten hat: »Du musst ihn gehen lassen, nur dann hat er die Kraft, dir weiterhin seine Liebe zu senden.« Kitty lässt ihre Hand los und wendet sich mit einem mütterlichen Lächeln ab, klatscht zweimal in die Hände und ruft in die Runde:
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