Je mehr ich dir gebe (German Edition)
wenn er so reuevoll tut.
Mama ist ganz hin und weg von diesem ausgezeichneten Benehmen. »Davon könnte Papa sich eine Scheibe abschneiden.«
»Mama!«, faucht Julia. – Also wirklich, Mütter sind manchmal so was von daneben!
Sie gehen in ihr Zimmer. Kolja umarmt sie.
»Ich möchte dich gern zum Abendessen einladen«, haucht er ihr ins Ohr. »Ziehst du dir was Schönes an?«
Sie wählt ein brombeerfarbenes Neckholderkleid und eine graue Kapuzenjacke. Keinen BH, keinen von seinen Erotik-Slips, keine Stay-ups, keine Strapse, aber sie trägt den Ring – das ist Entgegenkommen genug.
Ihre Haare hat sie ganz streng hochgesteckt, die Lippen dunkelrot geschminkt. Im Auto fragt sie sich, warum sie ihm eigentlich entgegenkommen muss.
Sie fahren zu einem Italiener nach Berlin-Mitte, sitzen auf einer Gartenterrasse, um sie herum nur Touristen oder Geschäftsleute, alle fein angezogen. Julia ist froh, dass sie nicht so schnieke aussieht. Kolja starrt auf ihren Busen, bestellt Prosecco als Aperitif und Melonen mit Parmaschinken als Vorspeise.
»Das hast du doch so gern, oder?«
»Ja!«
Sie stoßen an, auf das Leben, auf sich, auf Jonas. Julia fragt sich, woher Kolja weiß, dass sie Melonen mit Schinken so gern hat. Sie haben es noch nie zusammen gegessen. Was hat sie ihm nur alles schon erzählt!
Die Luft ist feucht, noch warm, aber man ahnt schon, dass der Sommer vorbei ist. Auf dem Land würden um diese Zeit Spinnenweben durch die Luft fliegen, von den Baldachinspinnen, die sich kilometerweit treiben lassen. Ihre Oma Bärbel, im Taunus, wohnt auf dem Land. Als Kind war sie in den Ferien öfter dort. Jetzt ist Oma im Pflegeheim, sie hatte vor zwei Jahren einen Schlaganfall und ist seitdem halbseitig gelähmt. Mama fährt sie jeden Monat besuchen, aber Oma erkennt Mama nicht mehr. Sie weiß auch nicht mehr, dass Julia ihr Enkelkind ist – hat sogar gefragt, wer sie denn sei, als Julia in den Winterferien mit ihren Eltern zusammen zu Besuch war.
»Sie ist dement«, hat Mama gesagt. »Hoffentlich werde ich das später nicht auch mal. Wie traurig, wenn man seine Lieben nicht mehr erkennt, wenn man sein ganzes Leben vergisst.«
Julia kann sich nicht vorstellen, Jonas je zu vergessen! Nicht mal, wenn sie Alzheimer bekäme!
»An was denkst du?«, fragt Kolja.
»An meine Großmutter.« Aber sie möchte nicht über sie reden, lieber fragt sie Kolja nach seinen Großeltern.
»Sie haben mir eine Menge Geld vererbt. Mehr nicht.«
»Was heißt ›mehr nicht‹«?
»Bei uns in der Familie hat sich niemand groß um den anderen gekümmert. Jeder hat halt sein Ding durchgezogen. Meine Mutter ist nach Neuseeland gegangen und hat da noch mal zwei Kinder gekriegt. Hab ich dir doch schon erzählt.«
Sie hört an seiner Stimme, dass das nicht sein Lieblingsthema ist.
»Leben deine Großeltern denn noch?«
»Nein. Sie haben sich beide das Leben genommen.« Kolja nimmt sein Glas und trinkt einen Schluck.
»Wie bitte?«
»Sie haben Schlaftabletten geschluckt und sind ganz friedlich eingeschlafen, zusammen, auf dem Bett. Sie wollten ihr Glück bewahren.« Wie beiläufig er das sagt.
Die Melonenstücke mit dem Parmaschinken kommen. Der Kellner stellt den Teller in die Mitte des Tisches, fragt, ob sie noch einen Prosecco haben möchten. Julia hat noch, aber Kolja nimmt gern noch einen.
»Das ist ja schrecklich«, sagt Julia.
»Ach was«, sagt Kolja. »Das ist total romantisch. Sie haben noch einen schönen letzten Abend gehabt und dann beschlossen, zusammen zu sterben. Sie waren ein Leben lang zusammen und haben sich ein Leben lang geliebt. Was Schöneres gibt es doch gar nicht, als gemeinsam zu sterben, wenn man zusammen so glücklich ist. Schon Sokrates hat gesagt: Niemand kennt den Tod, und niemand weiß, ob er für den Menschen nicht das allergrößte Glück ist .« Kolja nimmt einen großen Schluck Prosecco.
»Ich ziehe zusammen leben vor«, sagt Julia.
»Manchmal geht das aber nicht.« Er stellt sein Glas ab, schaut ihr in die Augen. »Ich bin mir absolut sicher, dass Jonas glücklich ist.«
Kolja reicht ihr die Gabel und den Löffel und fordert sie auf, sich zu nehmen. Ihr rutscht ein Melonenstück weg und landet auf dem Tisch. Sie sticht mit der Gabel in das orangefarbene Fruchtfleisch und lädt es auf ihren Teller.
»Der Ring steht dir so gut«, sagt er. »Ich stelle mir gerade vor, er wäre das Einzige, was du anhast.« Er lächelt. Sie lächelt zurück.
Als Hauptspeise nimmt Julia einen Salat, Kolja ein
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