Je sueßer das Leben
um sich errichtet hat. Fünf Jahre lang hat Livvy darauf gehofft – darum gebetet –,dass sie eines Tages eine Öffnung in dieser Mauer finden und wieder in Julias Leben aufgenommen werden würde.
Aber da war keine. Julia legte auf, wenn sie anrief, ging nicht an die Tür, wenn sie klopfte. Briefe kamen ungeöffnet zurück. Wenn sie sich zufällig im Supermarkt oder auf der Post begegneten, machte Julia auf dem Absatz kehrt und stürmte hinaus, und Livvy war den missbilligenden Blicken der Umstehenden ausgesetzt.
Es gab Momente, da ertrug Livvy ihre Einsamkeit kaum mehr. Mehr als einmal stellte sie ihr Auto in der Nähe der Montessori-Schule ab, in der sich Gracies Kindergarten befindet, und sah zu, wie Julia ihre Tochter abholte, um einen Blick auf ihre Schwester und ihre Nichte zu erhaschen. Sie hätte alles gesagt und alles getan, um den Riss zwischen ihnen zu kitten. Alles.
Aber jetzt ist sie sich dessen nicht mehr so sicher. Vielleicht ist einfach zu viel passiert. Julia hat ihre Strafe verkündet, und das ist angekommen – Livvy fühlt sich bestraft, sie hat all die schrecklichen Zustände durchlebt, die Julia sie durchleben lassen wollte. Sie hat zahllose Nächte durchgeweint, ist abgemagert, hat Haare und Selbstbewusstsein verloren. Tom schlug vor umzuziehen, aber Livvy wollte nicht, sie wollte nicht vor dem, was sie verdiente, weglaufen.
Als sie jetzt jedoch ihre Schwester so vor sich sieht, denkt sie: Ich habe den Preis gezahlt, Julia. Auf Heller und Pfennig. Ohne es an etwas Konkretem festmachen zu können, liest sie Julias Miene ab, dass diese es auch weiß. Livvy hat keine Ahnung, warum sie auf einmal das Gefühl hat, für ihre Schuld bezahlt zu haben, und auch nicht, wie man so etwas misst. Sie weiß nur, dass es vorbei ist.
Julia fummelt an dem Schulterriemen ihrer Tasche herum. »Wie geht es dir so?«
Will Julia etwa noch hierbleiben? Livvy zuckt die Achseln, sie kann Julias Absichten nicht einschätzen, und gleichzeitig würde sie am liebsten mit der Neuigkeit herausplatzen, dass sie schwanger ist. Laut Aussage des Arztes ist der Geburtstermin der 8. Januar. Livvy weiß, dass es Unglück bringt, wenn man in den ersten drei Monaten von der Schwangerschaft erzählt. Edie ist schon viel weiter, hat sich herausgestellt, und Livvy ist neidisch, dass Edie ihr Kind zuerst bekommen wird, was natürlich albern ist. Livvy hat Angst, dass etwas schiefgehen könnte, und möchte nur, dass das Baby so schnell wie möglich auf die Welt kommt und gesund und munter ist. Beinahe hätte sie es Julia erzählt, aber dann weiht sie sie doch nicht ein.
»Ganz gut« ist alles, was sie sagt.
»Und Tom? Er sieht gut aus auf dem Foto.« Julia deutet auf den Rahmen auf Livvys Schreibtisch.
»Ja, nicht wahr? Das wurde letztes Jahr aufgenommen. An unserem zehnten Hochzeitstag.«
»Es sind schon zehn Jahre?« Julia sieht überrascht aus. »Tut mir leid, dass ich das verpasst habe.«
Was hätte Julia denn tun wollen, eine Karte schicken? Livvy zuckt die Achseln. »Wir sind nur essen gegangen.« In ein sündteures Restaurant mit sündteurem Champagner, was Livvy mittlerweile bereut. Ein schlichtes Picknick im Wohnzimmer wäre genauso gut gewesen, vielleicht sogar romantischer.
Julia scheint nicht mehr zu wissen, was sie sagen soll. Livvy sieht zu der alten Leinentasche, die auf dem Stuhl steht und den Eindruck macht, als wären ein Haufen Büchereibücher oder Ziegelsteine darin. Die Tasche ist abgenutzt, und die Farben sind verblasst, aber Livvy erkennt sie dennoch wieder. »Ist das die Tasche, die wir in Evanston gekauft haben?«, fragt sie. »Am Leuchtturm?«
Julia blickt auf die Tasche, als sähe sie sie zum ersten Mal. »Ja, ich glaube schon.«
Die Idee zu diesem Ausflug hatte Livvy gehabt. Josh war gerade acht Jahre alt geworden und hatte damit endlich das Mindestalter für einen Besuch des Grosse Point Lighthouse erreicht. Sie war überzeugt, dass es ihm gefallen würde, und schlug deshalb vor, dorthin zu fahren – Julia, Josh und sie, die Männer mussten arbeiten. Sie überredete Julia, Josh einen Tag Schule schwänzen zu lassen. Es war als verspätetes Geburtstagsgeschenk gedacht, Livvy wollte die Fahrerei übernehmen und sie zum Mittagessen in Merle’s Smokehouse einladen, wo sie als Überraschung einen Geburtstagskuchen bestellt hatte.
Josh zählte jede einzelne der 141 Stufen, die sie bis zur Spitze des Leuchtturms hinaufklettern mussten, wo ein atemberaubender Ausblick auf den Lake Michigan auf sie
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