Je sueßer das Leben
es zu einem peinlichen Moment mit Leuten, denen Julia aus dem Weg gegangen ist oder die ihr aus dem Weg gegangen sind, aber der ist schnell überwunden und endet meist mit einer Umarmung und dem Versprechen, sich bald einmal zu treffen. Das hätte sich Julia nie so vorgestellt – die Gastgeberin zu spielen und Leute aus ihrer Vergangenheit wiederzutreffen –,aber es braucht nur ein ermutigendes Lächeln von Madeline und Hannah, damit sie weitermacht.
Connie bietet ihr an, sie abzulösen, und stellt ihr einen Teller mit Frühstück hin, aber Julia will sich gar nicht ausruhen. Die beiden Frauen arbeiten Seite an Seite, danken den Leuten und heuern Fahrer an, bis plötzlich Sandra Linde und ihr Sohn Peter durch die Tür treten.
»Sandra.« Julia spürt, wie der Adrenalinschub, der sie antreibt, augenblicklich versiegt. Sandra sieht fantastisch aus, eben wie eine Mutter, deren Kinder endlich erwachsen werden. Sie kümmert sich wieder mehr um sich selbst, schafft es zum Friseur und schläft die Nacht durch. Drei der vier Jungen sind bereits aus dem Haus, nur der Jüngste wohnt noch daheim. Peter, Joshs bester Freund, der jetzt fünfzehn ist.
»Julia.« Die beiden Frauen sehen sich an und wissen nicht, was sie sagen sollen. Sie waren einmal miteinander befreundet, haben abwechselnd ihre Jungen herumkutschiert und sich, während die beiden spielten, über ihre neuesten Unfälle und Blessuren ausgetauscht. »Jamie hat mir erzählt, dass er dich kürzlich beim Paketausliefern getroffen hat. Ich wollte anrufen, aber …«
»Ist schon gut«, sagt Julia. Sie nimmt es Sandra nicht übel, dass sie damit gezögert hat. Es ist so viel Zeit vergangen, und Julia hat es ihren Freunden und Bekannten nicht leicht gemacht, den Kontakt mit ihr aufrechtzuerhalten. »Ich freue mich, dich zu sehen.«
»Ich mich auch. Erinnerst du dich an Peter?« Sandra wird rot. »Klar erinnerst du dich. Peter, begrüß Mrs. Evarts.«
Peter ist so groß wie Julia. Er ist nicht mehr so schlaksig und sieht auch nicht mehr wie der freche Bengel aus, der früher zusammen mit Josh durchs Haus tobte und alles umwarf, was ihm im Weg stand. Er ist fast ein Mann. Sie kann ihren Blick kaum von ihm abwenden.
»Hi«, murmelt er. Er sieht Julia an, dann senkt er schnell den Kopf.
»Mensch, bist du groß geworden, Peter!«, ruft Julia und zwingt sich, fröhlich zu klingen. »Ich hätte dich beinahe nicht wiedererkannt.«
»Danke.«
Sandra versetzt ihm einen Stoß in die Rippen. Peter hat vier Freundschaftsbrote auf dem Arm, und Julia nimmt sie lächelnd und mit Tränen in den Augen in Empfang.
Sandra kramt in ihrer Tasche nach einem Taschentuch. Peter ist sein Unbehagen so deutlich anzusehen, dass Julia ihre Tränen schnell mit dem Ärmel wegwischt. »Es war eine lange Nacht. Danke, dass ihr gekommen seid.«
»Das war mir ein Bedürfnis.« Sandra nimmt Julias Hände. »Ehrlich. Kommst du mich bald mal besuchen? Oder ich besuche dich. Ich würde dich wirklich gern sehen.«
Julia nickt nur, die Tränen laufen ihr über die Wangen. Sandra umarmt sie, dann hakt sie sich bei Peter ein, und die beiden gehen.
Mark tritt neben Julia. »Waren das nicht Sandra und Peter?«, fragt er.
Julia nickt.
»Unglaublich«, sagt Mark mit erstickter Stimme und blinzelt ein paarmal.
Madeline fasst sie beide am Arm. »Sieht so aus, als hätten wir eine kurze Flaute«, sagt sie leise. »Wollt ihr nicht eine Pause machen und vielleicht nach Gracie sehen?«
Sie bringen ein Nicken zustande, dann nimmt Mark Julias Hand. Eng aneinandergeschmiegt gehen sie die Treppe hinauf zu Gracie.
»Er sieht anders aus«, sagt Mark. »Und doch irgendwie unverändert. Weißt du, was ich meine?«
»Wie groß er …«, setzt Julia an, aber die Worte bleiben ihr in der Kehle stecken. Plötzlich fällt ihr jeder Schritt schwer, ihre Beine verwandeln sich in Blei. Das Gefühl bodenloser Verzweiflung, völliger Leere und Hoffnungslosigkeit ist zurück. Julia hatte gehofft, es ganz hinter sich gelassen zu haben oder wenigstens zum Teil, aber dem ist nicht so. Da ist es wieder, es sitzt ihr in den Knochen, im Blut, in jedem Atemzug. Es wird nie weggehen. Sie hat immer geglaubt, es nicht mehr ertragen zu können – jetzt weiß sie es.
Und dann spürt sie Marks Hand. Spürt, wie er ihre fest drückt. Sie sieht ihn an, sieht ihm in die Augen. Darin steht derselbe Wunsch. Seit Joshs Tod stirbt er genau wie sie jeden Tag aufs Neue. Sie leben, das ja, aber jeder Tag ohne ihren Sohn ist ein kleiner Tod,
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