Je sueßer das Leben
hatten. Voller Wehmut und Traurigkeit betrachtet er seine Frau, und langsam wird ihm klar, dass die Julia aus seiner Erinnerung nicht mehr existiert.
Aber vielleicht stimmt das gar nicht. Diese Woche hat er sie zweimal – zweimal! – beim Lächeln erwischt. Beim Lächeln ! Nicht ihn hat sie angelächelt, leider, aber das ist nicht schlimm. Und beim Heimkommen gestern fand er sie und Gracie in einer völlig chaotischen Küche, wie sie in einer Mehlwolke standen und laut lachten. Mark wollte sich zu ihnen gesellen, wollte wissen, was so lustig war, aber kaum sah Julia ihn, verstummte sie und machte sich am Backofen zu schaffen.
Mark erhöht die Steigung für das Laufband, dann passt er sein Tempo an. Er weiß nicht, was er von dieser neuen Entwicklung halten soll, aber er schöpft Hoffnung. Auf lange Sicht. Die ersten beiden Jahre waren die schlimmsten gewesen – der Schock, die Trostlosigkeit und die Ungläubigkeit, der Schmerz in seiner Brust, der ihm den Atem raubte. Zweimal dachte er, er hätte einen Herzinfarkt. Das erste Mal war es ihm egal gewesen. Er war beinahe erleichtert. Es kam ihm gelegen, er wollte sterben. Aber er starb nicht.
Das zweite Mal war es anders. Es geschah vier Monate nach Joshs Tod, und Mark war gerade im Büro. Er versuchte zu arbeiten und bekam nichts hin, und in seiner Ungeduld warf er den von Josh im Ferienlager getöpferten Stiftebecher um. Er zerbrach zwar nicht, aber ein Stück splitterte ab, und Mark spürte einen sengenden Schmerz in der Brust, als er die Scherbe vom Boden aufhob. Er versuchte, sie anzukleben, der Becher durfte einfach nicht kaputt sein. In dem Moment wurde seine Lunge zusammengepresst. Der Schmerz war unerträglich.
Er schaffte es gerade noch, seine Sekretärin zu rufen, die sofort den Notarzt verständigte. Dann gab sie ihm ein Aspirin und setzte sich zu ihm auf den Boden, während er um Atem rang, die Scherbe in der Hand, und auf den Arzt wartete.
Sie brachten ihn in das Krankenhaus in Freeport und ließen Julia kommen, die in einigen Tagen den Geburtstermin hatte. Völlig verschreckt sah sie ihn mit aufgerissenen Augen und weißen Lippen an. In diesem Moment wurde Mark klar, dass er sich den Luxus, um seinen Sohn zu trauern, nicht erlauben konnte. Julia brauchte ihn. Ihr ungeborenes Kind brauchte ihn. Er hatte seine Arbeit im Büro vernachlässigt, und das musste schleunigst aufhören, schließlich war das ihre einzige Einkommensquelle.
»Es geht mir gut«, sagte er zu dem Arzt, der den EKG -Ausdruck studierte.
»Sie hatten keinen Herzinfarkt«, bestätigte der Arzt. »Aber dass es Ihnen gutgeht, kann man wirklich nicht sagen.«
Mark hörte dem Arzt überhaupt nicht zu, sondern steckte das Rezept für ein Schlafmittel ein und machte weiter wie gehabt.
Seine Arbeit bewahrt ihn davor, ganz zusammenzubrechen. Die Arbeit und Gracie, die er sein kleines Fünkchen nennt, weil sie so voller Leben ist und ihn immer zum Lachen bringt. Gracie kam eine Woche nach Marks Einlieferung in die Notaufnahme und viereinhalb Monate nach Joshs Tod auf die Welt. Trotz der Schwermut um sie herum hat Gracie ein sonniges Gemüt, sie hat nichts gegen die Fotos von Josh an der Wand, obwohl sie nicht darauf zu sehen ist, und sie nimmt es hin, wenn ihre Mutter stundenlang weint. Aus Gesprächen mit Psychologen weiß er, dass Gracie eines Tages vielleicht Fragen an sie haben oder gegen sie rebellieren wird, dass sie sie mit Ablehnung und Konkurrenzverhalten und der schwierigen Frage konfrontieren wird, ob ihre Eltern sie ebenso sehr lieben wie Josh. Mark wagt es nicht laut auszusprechen, aber er ist froh, dass Gracie schon unterwegs war, als Josh starb. Sonst käme sie vielleicht auf den schrecklichen Gedanken, dass sie eine Art Lückenbüßer ist. Er liebt sie, sein kleines Fünkchen.
Die Maschine piept, und der Neigungswinkel wird flacher. Er verlangsamt sein Tempo, um wieder zu Atem zu kommen, und überlegt, ob er noch ein paar Minuten auf die Rudermaschine soll oder nicht. Zeit hätte er ja, sein erstes Meeting ist erst um halb neun.
»Morgenstund hat Gold im Mund, was?«, hört er hinter sich eine Stimme. Das Laufband stoppt.
Mark dreht sich um und sieht Vivian im Sportdress. Sie hat ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und ist dezent geschminkt. Sie sieht gut aus, auch wenn es natürlich völlig unsinnig ist, sich fürs Fitnessstudio zu schminken. Julia trägt schon seit Jahren kein Make-up mehr, sie hat es allerdings auch nicht nötig. Wenn er ihr das sagt, wird
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