Je sueßer das Leben
ihrem Rückzug, ihrer Verschlossenheit, ihrer Distanz. Aber mittlerweile ist ihm klar geworden, dass er auch sein Leben liebt und bereit ist, es weiterzuleben, selbst ohne Julia.
Die Schachtel steht auf seinem Schreibtisch, ein stummes Signal.
Mark macht sich an seinem Schreibtisch zu schaffen und hört seine Voicemail ab, wobei er sich mehr Zeit als nötig lässt, um jede Einzelheit der Nachrichten aufzuschreiben, einige hört er sogar zweimal ab, obwohl sie völlig unbedeutend sind. Er fährt seinen Computer hoch, um zu sehen, ob irgendwelche wichtigen E-Mails auf ihn warten. Tun sie nicht. Nachdem er seinen Schreibtisch fertig aufgeräumt und noch einige Entwürfe aus dem riesigen Planschrank durchgesehen hat, wendet er sich endlich der hellblauen Schachtel zu.
Auf dem Umschlag steht in Vivians präziser Handschrift sein Name. Ihre Initialen sind in das dicke, feste Briefpapier geprägt. Es riecht schwach nach ihrem Parfum.
Lieber Mark,
nur eine Kleinigkeit, um Dir zum Abschluss mit Lemelin zu gratulieren – ich wusste, dass Du es schaffst. Danke, dass Ihr mich in der G&E-Familie aufgenommen habt.
Herzlich,
Vivian
Victor, Mark und Vivian hatten nicht lange nach dem Abendessen im Roux einen Termin mit Bruno Lemelin gehabt. Danach arbeiteten sie ein paar Tage lang unter Hochdruck, um ihm einen Vorschlag für sein neues Restaurant in Chicago unterbreiten zu können. Vor zwei Tagen erteilte er ihnen den Zuschlag, und seither schwebt Mark wie auf Wolken. Mit gelegentlichen Aufschlägen auf dem harten Boden der Realität, denn Lemelin wird seinem Ruf als äußerst schwieriger Kunde gerecht. Er hält keine Bürostunden ein und ruft Mark zu jeder Tages- und Nachtzeit an, weil er noch irgendeine Kleinigkeit ergänzt oder geändert haben will. Mark weiß, dass die nächsten Monate lange Arbeitstage und einen enormen Kaffeekonsum mit sich bringen werden, aber das ist ihm egal – im Gegenteil, er freut sich darauf. Es wird sich auszahlen. Dadurch kann sich vieles ändern. Dadurch kann sich alles ändern.
Julia bekommt von dieser Entwicklung eigentlich nur mit, dass Mark plötzlich bester Laune ist. Seit Joshs Tod kümmert sie sich nicht mehr darum, was im Büro läuft. Mark kann das verstehen – er hat ja selbst eine Ewigkeit gebraucht, bis er seine Arbeit richtig wiederaufnehmen konnte. Für Julia stellt das meiste entweder eine Überforderung dar, oder sie interessiert sich nicht dafür. Solange es geht, tut sie nicht mehr als das absolut Nötigste.
Eine ihrer Therapeutinnen, eine Frau mit Birkenstock-Sandalen und fließenden Gewändern, hatte vorsichtig angedeutet, dass Julia nicht mehr macht, weil sie nicht muss – bevor Julia dazu kommt, hat Mark es bereits erledigt. »Wenn jemand einen Arm verliert, dann fühlt er sich hilflos, bis er feststellt, dass er ja auch den anderen Arm benutzen kann«, hatte die Frau ihm erklärt. Mark hatte sie nur angestarrt – er hasst solche Vergleiche. »Wenn man Julia mehr überlassen würde, wüsste sie sich vielleicht auch zu helfen«, verdeutlichte die Frau.
Das mag sein, aber das Wörtchen »vielleicht« hat Mark noch nie für besonders überzeugend gehalten. Vielleicht wird Julia sich selbst helfen – vielleicht aber auch nicht. Anfangs kam es ihm völlig normal vor, etwas, das jeder liebende Ehemann tun würde, um seiner Frau zu helfen. Einzuspringen und ihr Dinge abzunehmen, wann immer er konnte.
Mittlerweile fragt sich Mark allerdings, ob diese Hippiefrau nicht recht gehabt hat und er sich in eine Ecke gespielt hat, aus der er nun nicht mehr herauskommt. Es ist zur Gewohnheit geworden, gehört zu ihren jeweiligen Rollen, und das muss anders werden. Nur wie? Merkwürdigerweise hat Mark keine Angst davor, wie Julia darauf reagieren wird, sondern dass sie überhaupt nicht reagieren wird. Den Gedanken, dass sie auf den Lemelin-Auftrag mit Gleichgültigkeit reagieren könnte, erträgt er nicht. Er möchte gar nicht wissen, was er dann empfindet – oder tut.
Geduldig wartet die Schachtel auf dem Schreibtisch. Mark beschließt, sie zu öffnen.
Die weiße Satinschleife lässt sich leicht aufziehen. Er hebt den Deckel und erblickt ein weiches Säckchen. Als er in das Säckchen greift, berühren seine Finger etwas Kaltes, Hartes. Es entpuppt sich als schwerer silberner Kompass.
In den Deckel sind seine Initialen eingraviert, und am Rand ist 925 T&CO 1837 eingestempelt. Er ist bestimmt ein paar hundert Dollar wert. Jedenfalls ist er eines der schönsten und
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