Je sueßer das Leben
genommen. Je mehr ich mich anstrengte, desto schlimmer wurde es. Wenn ich jetzt so zurückdenke, dann fallen mir allerdings viele Kleinigkeiten auf, die ich damals gar nicht beachtete; dass er zum Beispiel an den Wochenenden zu Hause blieb, statt mit seinen Freunden rauszugehen. Dass er mir ständig im Weg stand und im ganzen Haus sein Zeug verteilte. Ich hatte einfach keine Ruhe vor ihm. Manchmal hat es mir so gereicht, dass ich mich in mein Zimmer zurückgezogen und die Tür verriegelt habe. Mir war nicht klar, dass Ben meine Aufmerksamkeit wollte. Damals habe ich das einfach nicht begriffen, habe sein Verhalten nicht durchschaut. Er war wie alle Kinder einfach liebesbedürftig, nur dass er nicht wusste, wie er an diese Liebe kommen sollte.« Sie sieht, dass sich Julia mit einem Taschentuch über die Augen wischt, und auch ihre Augen werden feucht. Aber es ist lange her, seit Madeline das letzte Mal deswegen geweint hat. »Mir war damals nicht klar, dass es meine Aufgabe war, das herauszubekommen, nicht seine.
Als Ben dann zu Hause auszog, um aufs College zu gehen, war ich erleichtert, das muss ich zugeben. Aus den Augen, aus dem Sinn. Eine Zeitlang habe ich den Frieden genossen, auch wenn er uns nach wie vor gelegentlich Sorgen machte – Wiederholung der Zwischenprüfung, Alkohol am Steuer, solche Sachen. Und dann starb Steven.«
Madeline sieht zur Decke. »Die Schuhfabrik von Steven war seit fünf Generationen in Familienbesitz. Er hatte immer gehofft, dass Ben eines Tages zur Besinnung kommen und das Geschäft übernehmen würde, daher war es nur logisch, dass er seinem Sohn das Geschäft vererbte. Wir hatten darüber gesprochen, und Steven wollte es so. Ich unterstützte ihn darin, obwohl wir Ben schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Es schien einfach das Vernünftigste zu sein, das Geschäft im Familienbesitz zu halten.
Ben verkaufte die Firma, kaum dass sie ihm überschrieben war. Ich war völlig fassungslos. Genauso gut hätte er ein Messer nehmen und es mir ins Herz stoßen können. Damals hatte ich bereits den Verdacht, dass er alkoholabhängig ist, später habe ich dann gehört, dass er auch Drogen genommen hat. Er ließ sich treiben, hatte keine Frau, keinen Halt im Leben. Ich war damals manchmal sogar froh, dass Steven tot war und er dieses Desaster nicht mehr miterleben musste.« Madelines Stimme bebt. Jedes Mal, wenn sie sich die Geschichte in Erinnerung ruft, erschüttert es sie bis ins Mark, so als wäre das alles erst gestern geschehen.
»Du trägst keine Schuld«, sagt Julia mit leiser Stimme. »Was hättest du tun können? Du darfst dir deswegen keine Vorwürfe machen.« Sie wirkt betroffen, und Madeline ist klar, dass sie diese Worte auch zu sich selbst sagt.
»Deswegen nicht, nein«, sagt Madeline. Sie atmet tief ein, auf einmal fühlt sie sich ganz leer. »Ich war so wütend, und zwar nicht nur wegen des Verkaufs, sondern wegen allem, was er getan hatte – was er Steve, mir und auch sich selbst angetan hatte. Unsere kleine Familiensaga hatte das Interesse der Wirtschaftsmedien geweckt, und man bat mich um ein Interview. Ich willigte ein. Und was tat ich? Ich schimpfte über Ben! In aller Öffentlichkeit. Ich erinnere mich nicht mehr, was genau ich sagte, aber als ich das Interview las, bekam ich einen Riesenschrecken – aus den Zeilen sprach regelrechter Hass. Ich rang noch mit einer Entschuldigung, als Ben schon einen teuren Anwalt anheuerte. Gemeinsam versuchten sie, mir das Haus wegzunehmen, das Steven mir vererbt hatte und in dem ich wohnte. Es war nichts Großartiges. Mit dem vielen Geld, das Ben durch das Erbe besaß, hätte er sich leicht fünf Luxusvillen kaufen können. Die Vehemenz, mit der er mich verfolgte, nahm ich ihm sehr übel.
Für die Presse war das natürlich ein gefundenes Fressen, und man bat mich um ein weiteres Interview – was ich ablehnte. Ich beschloss, keinen Muckser mehr von mir zu geben, sondern mich still zu verhalten und mich nur noch um meinen Kram zu kümmern, damit wieder Ruhe und Normalität in mein Leben einkehren konnten.«
Madeline wirkt ungeheuer niedergeschlagen, als sie den Rest der Geschichte erzählt. Mittlerweile war ihnen auch die Aufmerksamkeit der großen Zeitungen sicher, und Ben wurde im Wall Street Journal damit zitiert, dass Madeline nur auf das Geld seines Vaters aus gewesen sei, sein Zuhause zerstört habe und selbst Alkoholikerin sei. Wenn die Sache nicht so traurig gewesen wäre, hätte man über die Absurdität beinahe
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