Je sueßer das Leben
zwei zurück. Victor ist inzwischen wahrscheinlich längst zu Hause, hat mit seiner Frau zu Abend gegessen und sieht fern. Blättert durch eine Zeitschrift. Victor sitzt entspannt in seinem gemütlichen Haus, während Mark in diesem Rohbau auf einem Plastikstuhl hockt und der beißende Chicagoer Wind zwischen den Stahlträgern und Betonsäulen durchpfeift.
Vielleicht hätte er sich nicht so schnell verführen lassen sollen. Langsam dämmert ihm nämlich, dass es Victor nicht nur um das Geld geht, das sie bei diesem Projekt verlieren könnten, sondern dass Mark auch seinen Ruf riskiert, wenn es tatsächlich den Bach hinuntergeht, oder es ihm zumindest ewig anhaftet. Er wird der Architekt sein, den Lemelin ausgemustert hat, der nicht gut genug für ihn war.
»Du musst aufpassen«, hatte ihn Victor einmal gewarnt. »Schon mancher Architekt hat seine Seele für irgendein attraktives Projekt verkauft und sich nie mehr davon erholt. Verlier nicht das Basisgeschäft aus dem Blick. Da gibt es auch gute Projekte, Mark. Solche, die dir Spaß machen.«
Aber Mark hat die Nase voll vom Basisgeschäft – er hat keine Lust mehr, auf Nummer sicher zu gehen. Immer nur den Staus quo zu erhalten reicht ihm nicht mehr. Er möchte, dass sich etwas ändert. Nein, es muss sich etwas ändern – in der Arbeit, zu Hause und auch sonst. Wie heißt das alte Sprichwort? Man kriegt nichts geschenkt im Leben . Es wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als ein bisschen zu kriechen. Lemelin plant ein Spitzenrestaurant, und er ist ein Spitzenkunde. Da muss man eben mal über seinen Schatten springen.
Währenddessen spricht Vivian ganz sachlich über Lemelins bestehende Restaurants, weist auf Designelemente und die geschickte Ausnutzung des Raums hin, die so viel Aufmerksamkeit und Bewunderung auf sich gezogen haben. Lemelin fühlt sich offensichtlich geschmeichelt – es gefällt ihm, dass Vivian seine bisherigen Leistungen zu würdigen weiß. Empört bekommt Mark mit, wie Lemelin sie erneut von Kopf bis Fuß mustert. Der Typ ist einfach widerlich. Aber auch Vivian entgeht es nicht, und sie zieht die Augenbrauen hoch und mustert Lemelin ihrerseits von Kopf bis Fuß. Dann fangen beide an zu kichern, und Lemelin verliert seine Arroganz und gibt wieder den guten Kumpel.
Lemelin ruft seinen Assistenten herbei.
»Bringen Sie bitte eine Flasche Champagner für Miss Vivian«, weist er ihn an. »Einen 1983er Millésimé.«
Vivian schenkt Lemelin ein sprödes Lächeln. »Aber nur, wenn wir etwas zu feiern haben.«
Sie tippt mit dem Stift auf den improvisierten Tisch. Erst das Geschäft, dann das Vergnügen, scheint ihr Lächeln zu sagen.
Lemelin geht nicht darauf ein. »Das ganze Design muss anders werden.«
»Das können Sie haben.« Vivian wirft Mark einen scharfen Blick zu –falls er die Absicht hat, auch mal was zu sagen – irgendetwas –, wäre jetzt eine gute Gelegenheit. »Aber bestimmte Elemente aus dem ursprünglichen Entwurf würden wir beibehalten. Er ist klar und innovativ in dem, wie er edle Materialien neben schlichte stellt. Das natürliche Licht tagsüber hebt die Oberflächen und Farben der Innenausstattung hervor, und danach wird das von den Solarmodulen eingefangene Licht in die LED -Lichterketten eingespeist, die sich durch das gesamte Restaurant ziehen …«
»So dass das hier eines der elegantesten, umweltfreundlichsten Restaurants sein wird, in dem ausschließlich regenerative Rohstoffe zum Einsatz kommen.« Mark richtet sich gerade auf und stellt mit einer gewissen dümmlichen Befriedigung fest, dass er Lemelin um ein paar Zentimeter überragt. »Was dieses Restaurant allerdings gegenüber allen anderen auszeichnen wird, ist, dass wir das urbane Umfeld integrieren, die Stadt praktisch in den Innenraum holen.«
Sie befinden sich auf einem der letzten Filetstücke der Chicagoer Kulturmeile, nur einen Steinwurf von Weltklasse-museen und dem Chicago Symphony Orchestra entfernt. Lemelin will sein Restaurant 227 nennen, nach den 227 Quadratmeilen, die das Stadtgebiet von Chicago umfasst, und es soll die Esskultur und ethnische Vielfalt der Einwohner Chicagos reflektieren. Passend dazu wird es ein 2-2-7-Degustationsmenü geben (2 Vorspeisen, 2 Hauptspeisen, 7 Beilagen), das sich durch Schlichtheit und Raffinesse gleichzeitig auszeichnen soll. Mark zweifelt keine Sekunde daran, dass Lemelin mit der Speisekarte seinen Ruf weiter festigen wird.
Mark breitet die Entwürfe und ein erstes Modell, das sie mit Auto CAD entwickelt
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