Je sueßer das Leben
umzukehren.
»Wie bitte? Wir sind doch fast da, Hannah.« Julia nimmt Hannah fest am Arm. »Wir werden uns das Konzert anhören, und wenn du ihn dann immer noch nicht sehen willst, gehen wir. In Ordnung?«
Hannah nickt. »Ich brauche Schokolade«, sagt sie mit schwacher Stimme.
»Wenn wir wieder im Hotel sind, lassen wir uns Schokolade aufs Zimmer kommen«, verspricht Julia. Sie blickt noch einmal zu der Ecke, um die gerade der Mann gebogen ist, der wie Mark aussah. Sie schüttelt den Kopf – sie muss sich das eingebildet haben. »Wir werden nur für dich einen von diesen Schokoladenbrunnen kommen lassen.« Sie dreht sich wieder zu Hannah und tätschelt ihr gedankenverloren den Arm. »Lass uns reingehen.«
Die Masse an Leuten in der Lobby des Konzertgebäudes trifft Julia unvorbereitet. Anfangs ist sie eingeschüchtert, Leute rempeln sie an, streifen ihre Schulter oder ihre Taille, wenn sie sich an ihr vorschieben, zwingen sie, ihnen auszuweichen.
Dann entspannt sich Julia, sie genießt die Anonymität, das sorglos und heiter klingende Stimmengewirr. Hier sind sich alle fremd, aber irgendwie auch vertraut. Sie lässt sich mit Hannah durch die Menge treiben.
Hin und wieder begrüßt jemand Hannah, umarmt sie und küsst sie auf die Wange, macht ihr Komplimente. Julia sieht einige besorgte Blicke, aber Hannah scheint sie nicht zu bemerken. Es sind wohlmeinende Blicke, oder vielleicht auch mitleidige. Plötzlich wird Julia klar, dass die Leute sie auf ähnliche Weise angesehen haben müssen, nur nicht wegen eines abtrünnigen Ehemanns, sondern wegen eines verlorenen Sohns.
Sie suchen ihre Plätze. Während sie sich in die roten Samtpolster sinken lassen, sieht Julia zum Podium. Der Zuschauerraum wird langsam dunkel, und sie spürt Aufregung in sich aufsteigen, Spannung, als sich das Orchester einspielt. Sie weiß, dass sie beide hier sind, damit Hannah mit Philippe sprechen kann, aber plötzlich erscheint ihr das eher wie ein Mittel zum Zweck. Vielleicht ist der wahre Grund für ihr Hiersein, dass Julia ebendiesen Moment erleben kann, diesen Moment der Vollkommenheit, wenn einhundertneun Leute unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe, von denen jeder eine andere Lebensgeschichte und ganz eigene traurige und heitere Erinnerungen hat, in absoluter Harmonie gemeinsam Musik machen.
Sie sieht ihn, noch bevor er das Podium betritt. Sie stellt sich vor, wie er in die Jacke seines Fracks schlüpft. Er nickt und lacht über den Witz eines seiner Kollegen, aber im Geiste ist er schon bei der Musik. Überall spielen sich die Musiker ein, in den Garderoben, auf den Fluren, nur Philippe spielt im Gehen, wie ein Geiger, der sich zwischen den Tischen eines Restaurants bewegt. Immer noch spielend geht er die Stufen zum Podium hinauf, lockert Finger und Hals. Dann hört er auf, lässt die Schultern kreisen und wartet auf das Zeichen, auf das hin er seine Geige unter den Arm nimmt und mit hoch erhobenem Kopf das Podium betritt.
Hannahs Blick gleitet über die Musiker. Es freut sie, dass sie bis auf wenige Ausnahmen alle kennt. Vielleicht hat sich ja doch nicht so vieles geändert, wie sie gedacht hat. Sie hat mit diesem Leben schon vor einer ganzen Weile abgeschlossen, aber sie erinnert sich noch gut an die schönen und die schrecklichen Momente, die ein Engagement bei einem großen Symphonieorchester mit sich bringt. Madeline hat recht – sie und Philippe sind kein Paar wie jedes andere. Hier ist ihr Zuhause, hier ist ihre Familie.
Vor Schreck hält Hannah den Atem an, als sie den vertrauten dunklen Schopf entdeckt – er hat seine Haare geschnitten! Wann hat er seine Haare geschnitten? Kann er sie sehen, spürt er sie in dieser Menge von zweitausend Leuten? Das Haus ist voll. Weiß er, dass sie hier ist?
Von ihren Logenplätzen in Abschnitt F haben sie freien Blick auf die Geiger. Er ist so nah, dass sie sogar den Haarwirbel über seiner Stirn erkennt. Philippe hält den Blick gesenkt, die Mundwinkel weisen nach unten, er legt die Stirn in Falten. Hannah spürt, wie die Liebe zu ihrem Mann sie erfüllt. Als der Dirigent seinen Stab hebt, wird Hannah sogleich von der Musik mitgerissen und von neuer Hoffnung durchflutet.
Kapitel 16
Die Bar ist um die Ecke des Symphony Center. Im vorderen Teil befindet sich ein Restaurant, und sie müssen sich durch den Strom von Nachzüglern kämpfen, die sich beeilen, um noch rechtzeitig ins Konzert zu kommen.
»Du hast ein Abonnement, oder?«, fällt Mark wieder
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