Jeder stirbt für sich allein
Kriminalrat Zott abzugeben, gar nicht so ungewöhnlich gewesen. Nur hätte Escherich diesen Vorschlag eben von seinen Vorgesetzten ausgehen lassen müssen, von ihm gemacht war er einfach eine Frechheit, nein, Feigheit vor dem Feinde, Fahnenflucht ...
Kriminalrat Zott hatte sich drei Tage lang mit den Akten Klabautermann eingeschlossen und dann erst den Obergruppenführer um eine Unterredung gebeten. Der Obergruppenführer, begierig, diesen Fall endlich erledigt zu sehen, war gleich zu Zott gekommen.
«Nun, Herr Kriminalrat, was haben Sie oller Sherlock Holmes denn nun wieder ausgeschnüffelt? Ich bin überzeugt, Sie haben den Mann schon beim Wickel. Dieser Esel von Escherich ...»
Und nun folgte eine lange Schimpfkanonade auf den Escherich, der alles verbockt hatte. Der Kriminalrat Zott hörte sie an, ohne eine Miene zu verziehen, nicht einmal durch Nicken oder Kopfschütteln tat er seine eigene Meinung kund.
Als das Feuer endlich verraucht war, sagte Zott: «Herr Obergruppenführer, da haben wir also diesen Kartenschreiber, einen einfachen, ziemlich ungebildeten Mann, der in seinem Leben nicht viel geschrieben hat, und dem es auch ziemlich schwerfällt, sich schriftlich auszudrük-ken. Er muß Junggeselle oder Witwer sein und ganz allein
in seiner Wohnung leben, sonst hätte ihn in diesen zwei Jahren schon längst einmal seine Frau oder Wirtin beim Schreiben ertappt. Daß nie etwas über seine Person laut geworden ist, trotzdem, wie anzunehmen, in der Gegend nördlich vom Alexanderplatz viel über diese Karten geschwatzt wird, das beweist, daß ihn nie jemand beim Schreiben gesehen hat. Er muß absolut allein leben. Er muß ein älterer Mann sein - einem jüngeren wäre dieses Schreiben ohne sichtbare Wirkung längst übergeworden, und er hätte längst was anderes angefangen. Auch besitzt er keinen Radioapparat ...»
«Schön, schön, Herr Kriminalrat!» unterbrach ihn der Obergruppenführer Prall ungeduldig. «Das alles hat mir genau mit den gleichen Worten schon längst dieser Idiot, der Escherich, erzählt. Was ich brauche, sind neue Auswertungen, Ergebnisse, die mir die Inhaftnahme dieses Burschen ermöglichen. Ich sehe, Sie haben da eine Tabelle. Was ist mit dieser Tabelle?»
«Ich habe da eine Tabelle», antwortete der Kriminalrat und ließ sich nicht anmerken, wie schwer Prall ihn eben gekränkt hatte, als er alle scharfsinnigen Deduktionen Zotts als schon von Escherich vorgetragen bezeichnet hatte, «ich habe da alle Fundzeiten der Karten aufgezeichnet.
Es handelt sich bis heute um zweihundertdreiunddreißig
Karten und acht Briefe. Wenn wir uns diese Fundzeiten genauer ansehen, so kommen wir zu folgenden Ergebnissen: Nach acht Uhr abends und vor neun Uhr morgens ist nie eine Karte abgelegt ...»
«Aber das ist doch klar wie Kloßbrühe!» rief der Obergruppenführer ungeduldig. «Weil da die Häuser abgeschlossen sind! Dazu brauche ich wahrhaftig keine Tabellen, um das zu wissen!»
«Einen Augenblick, bitte!» sagte Zott, und seine Stimme klang jetzt recht ärgerlich. «Ich war mit meinen Feststellungen noch nicht fertig. Im übrigen werden die Häuser nicht erst morgens um neun Uhr, sondern schon um sieben, oft bereits um sechs Uhr aufgeschlossen. Ich fahre fort: Weiter sind achtzig Prozent der Karten in der Zeit zwischen neun Uhr morgens und zwölf Uhr mittags abgelegt worden. Nie ist eine Karte zwischen zwölf und vierzehn Uhr abgelegt. Dann zwanzig Prozent wieder zwischen vierzehn und zwanzig Uhr. Daraus folgt, daß der Kartenschreiber, der bestimmt mit dem Verteiler identisch ist, regelmäßig von zwölf bis vierzehn Uhr Mittag ißt, daß er nachts arbeitet, jedenfalls nie am Vormittag, selten am Nachmittag. Nehme ich eine Fundstelle, sagen wir am Alex, stelle ich fest, daß die Karte um elf Uhr fünfzehn abgelegt worden ist, nehme ich nun die Entfernung, die ein Mann in fünfundvierzig Minuten gehen kann, nämlich bis zwölf Uhr, und schlage ich mit dem Zirkel einen Kreis um die Fundstelle, so treffe ich stets nördlich auf diesen Fleck, der frei von Fähnchen ist.
Das trifft mit einigen Einschränkungen, die man darum machen muß, weil nicht jede Fundzeit mit der Ablegezeit identisch ist, auf alle Fundstellen zu. Daraus schließe ich erstens: der Mann ist sehr pünktlich. Zweitens: er liebt es nicht, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Er wohnt in jenem Dreieck, dessen Seiten von der Greifswalder, Danziger und Prenzlauer Straße begrenzt werden, und zwar in dem nördli-chen Ende
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