Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
traute, um ihm den Rücken zuzukehren, und zog das Starterseil. Spuckend sprang der Motor an. Er stieß das Boot vom Ufer ab, und wie zwei moderne Huckleberry Finns fuhren sie flussabwärts. Jetzt ist es so weit, dachte Sachs. Jetzt heißt es harte Bandagen anlegen. Ein Ausdruck, den ihr Vater gebraucht hatte. Der schneidige Mann mit den tiefen Geheimratsecken, der den Großteil seines Lebens Streifenpolizist in Brooklyn und Manhattan gewesen war, hatte ein ernstes Gespräch mit seiner Tochter geführt, als sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie ihren Beruf als Model aufgeben und zur Polizei gehen wollte. Er hatte voll und ganz hinter ihrer Entscheidung gestanden, hatte ihr aber ein paar Ratschläge mit auf den Weg gegeben.
»Amie, über eins musst du dir im Klaren sein. Manchmal ist es der totale Stress, manchmal kannst du was ausrichten, manchmal ist es langweilig. Und manchmal, nicht allzu oft, Gott sei Dank, musst du harte Bandagen anlegen. Farbe bekennen. Du bist auf dich allein angewiesen, ohne dass dir einer hilft. Und damit meine ich nicht nur gegenüber Straftätern. Manchmal musst du dich auch gegen deinen Boss stellen. Manchmal gegen dessen Boss. Oder auch deine Kollegen. Wenn du ein Cop werden willst, musst du bereit sein, es allein durchzustehen. Da führt kein Weg daran vorbei.«
»Ich komme schon damit klar, Paps.«
»Ganz mein Mädchen. Los, wir machen eine Spritztour, mein Schatz.« Sachs hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so allein gefühlt wie jetzt, als sie in diesem morschen Boot saß, das von einem wunderlichen jungen Mann gesteuert wurde. Harte Bandagen anlegen... Farbe bekennen.
»Schauen Sie, dort«, sagte Garrett rasch und deutete auf irgendein Insekt.
»Das ist mein Lieblingstier. Der Rückenschwimmer. Er fliegt irgendwie unter Wasser.« Sein Gesicht strahlte vor Begeisterung.
»Das kann er wirklich! Hey, das wär doch ziemlich toll, nicht? Unter Wasser fliegen. Ich mag Wasser. Es fühlt sich gut an.« Das Lächeln verflog, und er rieb sich den Arm.
»Dieser verfluchte Giftsumach... Ich hab das immerzu. Es juckt manchmal fürchterlich.« Sie schlängelten sich durch kleine Buchten, um Inseln, Wurzel-Stöcke und graue, halb versunkene Bäume, kehrten aber immer wieder auf Westkurs zurück, auf die sinkende Sonne zu. Ein Gedanke ging Sachs durch den Kopf, wie der Nachhall von etwas, was ihr früher eingefallen war, in der Zelle des Jungen, kurz bevor sie ihn aus dem Gefängnis geholt hatte. Wenn Garrett ein aufgetanktes Boot voller Proviant versteckt hatte, hatte er erwartet, dass er irgendwie aus dem Gefängnis entkommen würde. Und ihre Rolle dabei war Teil eines raffinierten, wohl durchdachten Plans.
»Egal, was du von Garrett hältst, trau ihm nicht. Du hältst ihn für
unschuldig. Aber du musst einfach einsehen, dass er es möglicherweise nicht
ist. Du weißt doch, wie wir bei der Tatortarbeit vorgehen, Sachs.«
»Unvoreingenommen. Ohne vorgefasste Meinung. Alle Möglichkeiten in
Betracht ziehend.« Doch dann blickte sie einmal mehr zu dem Jungen. Mit strahlenden Augen saß er da, blickte aufgekratzt mal hierhin, mal dorthin, während er das Boot durch die Fahrrinnen lotste, wirkte ganz und gar nicht wie ein flüchtiger Verbrecher, sondern eher wie ein begeisterter Teenager auf Campingtour, zufrieden mit sich und der Welt und darauf gespannt, was ihn hinter der nächsten Flussbiegung erwartete.
»Sie ist gut, Lincoln«, sagte Ben, der damit den Trick mit dem Handy meinte. Selbstverständlich ist sie gut, dachte Rhyme. Und fügte hinzu: Sie ist genauso gut wie ich. Obwohl er sehr zu seinem Unmut eingestehen musste wenn auch nur sich selbst -, dass sie diesmal besser gewesen war. Rhyme war wütend auf sich, weil er es nicht vorausgesehen hatte. Das ist kein Spiel, dachte er, keine Übung - so wie die Lektionen, bei denen er sie manchmal bewusst herausforderte, wenn sie einen Tatort abschritt oder wenn sie in seinem Labor in New York Spuren auswerteten. Sie war in Lebensgefahr. Vermutlich blieben ihr nur mehr ein paar Stunden, bis Garrett über sie herfiel oder sie umbrachte. Er durfte sich keinen weiteren Schnitzer leisten. Ein Deputy tauchte mit einer Einkaufstüte von Food Lion in der Tür auf. Sie enthielt Garretts Kleidung, die er im Gefängnis hatte ausziehen müssen.
»Gut!«, sagte Rhyme.
»Legt eine Tabelle an, irgendwer. Thom, Ben... legt eine Tabelle an. >Funde am sekundären Tatort - Müh-le<. Ben, schreiben Sie, schreiben Sie schon!«
»Aber wir haben doch
Weitere Kostenlose Bücher