Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
grummelte Culbeau. Er nahm sein Gewehr und zog den Pfad entlang. Seine beiden Gefolgsleute trotteten hinter ihm her. Dong. Mary Beth riss die Augen auf, fuhr aus dem Tiefschlaf hoch. Dong.
»Hey, Mary Beth«, ertönte eine muntere Männerstimme. Wie wenn ein Erwachsener mit einem Kind spricht. Verschlafen dachte sie: Das ist mein Vater! Wieso ist er nicht im Krankenhaus? Er ist nicht in der Verfassung, Holz zu hacken. Ich muss ihn wieder zu Bett bringen. Hat er seine Medikamente genommen? Moment! Benommen, mit pochendem Schädel setzte sie sich auf. Sie war auf dem Esszimmerstuhl eingeschlafen. Dong. Moment. Das ist nicht mein Vater. Er ist tot... Es ist Jim Bell. ... Dong.
»Mariiiiiiii Beheth...« Sie schrak auf, als sie das feixende Gesicht am Fenster sah. Es war Tom. Ein weiterer Schlag an der Tür, als der Missionar mit seiner Axt auf das Holz eindrosch. Tom beugte sich herein, blinzelte in das Zwielicht.
»Wo bist du?« Wie gelähmt starrte sie ihn an.
»Ach, hey, da bist du ja«, rief Tom.
»Mann, du bist ja noch hübscher, als ich's in Erinnerung hatte.« Er hielt sein Handgelenk hoch und zeigte ihr den dicken Verband.
»Ich hab einen halben Liter Blut verloren, und zwar wegen dir. Dafür hab ich ja wohl was gut.« Dong.
»Ich verrat dir was, Schätzchen«, sagte er.
»Als ich letzte Nacht eingeschlafen bin, hab ich daran gedacht, wie sich deine Titten angefühlt haben. Besten Dank für die süßen Träume.« Dong. Diesmal drang die Axt durch die Tür. Tom verzog sich vom Fenster und gesellte sich zu seinem Freund.
»Mach weiter, Junge«, rief er ihm aufmunternd zu.
»Gleich hast du's geschafft.« Dong.
... Fünfunddreißig
Jetzt sorgte er sich vor allem darum, dass sie sich etwas antun könnte. Seit er Amelia Sachs kannte, hatte Rhyme mit ansehen müssen, wie sie sich mit der Hand in die Haare fuhr und die Kopfhaut blutig kratzte. Er hatte mit angesehen, wie sie Nägel kaute und an den Fingerkuppen zupfte. Er hatte miterlebt, wie sie hundertfünfzig Meilen die Stunde gefahren war. Er wusste nicht genau, was sie dazu trieb, aber aus irgendeinem Grund stand Amelia Sachs ständig unter Hochspannung. Jetzt, nachdem das passiert war, jetzt, da sie jemanden getötet hatte, könnte diese innere Unruhe zu einer Kurzschlusshandlung führen. Nach dem Unfall, bei dem Rhyme zum Krüppel geworden war, hatte ihm Terry Dobyns, der Psychologe der New Yorker Polizei, erklärt, dass er sicher irgendwann an Selbstmord denken werde. Doch nicht die Niedergeschlagen-heit ob seiner Verfassung werde der Auslöser sein, Depressionen dämpften eher den dazu nötigen Antrieb. Die Hauptursache für einen Selbstmord sei immer eine tödliche Mischung aus Hoffnungslosigkeit, Angst und heller Panik. Und genau so war Amelia Sachs wahrscheinlich in diesem Moment zu Mute - gejagt, von ihrer inneren Stimme irregeleitet. Du musst sie finden, dachte er. Und zwar schnell. Aber wo war sie? Doch darauf fiel ihm noch immer keine Antwort ein. Er blickte wieder auf die Tabelle. Keinerlei Spuren aus dem Wohnwagen. Lucy und die anderen Deputys hatten ihn kurz durchsucht - zu schnell natürlich. Das Jagdfieber hatte sie gepackt -selbst Rhyme, der sich nicht von der Stelle rühren konnte, verspürte es oftmals -, und sie wollten sich unbedingt auf die Fährte der Feindin heften, die ihren Freund getötet hatte. Die einzigen Hinweise auf Mary Beths Aufenthaltsort - zu dem Garrett und Sachs jetzt unterwegs waren - standen vor seinen Augen. Aber sie waren ihm ein Rätsel - die sonderbarsten Spuren, die ihm jemals untergekommen waren. FUNDE AM SEKUNDÄREN TATORT - MÜHLE Braune Farbe an Hose Sonnentau Lehm Torfmoos Fruchtsaft Papierfasern Stinkball - Fischköder Zucker Camphen Alkohol Kerosin Hefe Wir brauchen mehr Spuren! Er haderte mit sich selbst. Aber wir haben keine gottverdammten Spuren mehr. Seinerzeit, kurz nach dem Unfall, als er sein Schicksal nicht hatte annehmen wollen, hatte er schier übermenschliche Willenskraft aufgeboten, um seine Glieder wieder zu bewegen. Alle möglichen Geschichten waren ihm durch den Kopf gegangen - dass Menschen ein Auto anheben konnten, wenn ihr Kind darunter lag, oder unglaublich schnell laufen, wenn sie dringender Hilfe bedurften. Doch schlussendlich hatte er sich damit abgefunden, dass er über derartige Kräfte nicht mehr verfügte. Aber eine Kraft war ihm geblieben - die Kraft seines Geistes. Denk nach! Du bist auf deinen Verstand angewiesen und auf die Spuren, die du vorliegen hast. Die Spuren werden
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