Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
durchgelaufen sein. Aber ich habe in etwa eine Ahnung, was passiert ist - Mary Beth hat hier gekniet. Von Westen her - in der Richtung liegt der Kanal - führen Abdrücke von Männerschuhen zu ihr hin. Die stammen von Garrett. Ich kann mich noch genau an das Profil des Schuhs erinnern, den Jesse gefunden hat. Ich kann auch erkennen, wo Mary Beth aufgestanden und zurückgewichen ist. Eine weitere Fußspur, ebenfalls Männerschuhe, führt von Süden aus zu dieser Stelle. Das war Billy. Er ist die Böschung heruntergekommen. Er läuft schnell - hauptsächlich auf Zehen und Ballen. Er rennt also. Garrett geht auf ihn zu. Sie rangeln miteinander. Billy weicht zu einer Weide zurück. Garrett läuft ihm nach. Wieder kommt's zu einer Rangelei.« Sachs musterte den weißen Umriss von Billys Leiche.
»Als Garrett zum ersten Mal mit der Schaufel zuschlägt, erwischt er Billy am Kopf. Er fällt hin. Da lebt er noch. Aber dann trifft Garrett ihn am Hals, als er schon am Boden liegt. Das hat ihm den Rest gegeben.« Jesse lachte verblüfft und starrte den Umriss an, als sähe er dort etwas völlig anderes.
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Die Blutspuren«, sagte sie geistesabwesend.
»Hier sind ein paar kleine Tropfen.« Sie deutete auf den Boden.
»So sehen Blutspritzer aus einer Fallhöhe von etwa einem Meter achtzig aus - die stammen von Billys Kopf. Aber diese großen Spritz-und Abrinnspuren - die von einer durchtrennten Halsschlagader stammen müssen - sind erst entstanden, als er bereits am Boden lag... Okay, Rhyme, ich fange mit der Untersuchung an.« Nach der Schachbrettmethode vorgehen. Schritt für Schritt. Den Blick zu Boden gerichtet, auf Erde und Gras, auf die knorrige Borke der Eichen und Weiden, hinauf zu den überhängenden Zweigen. (
»Ein Tatort ist dreidimensional, Sachs«, mahnte Rhyme sie immer wieder.)
»Sind die Zigarettenkippen noch da?«, fragte Rhyme.
»Hab sie.« Sie wandte sich an Lucy.
»Die Zigarettenkippen da«, sagte sie und nickte zum Boden.
»Wieso wurden die nicht eingesammelt?«
»Ach«, sprang Jesse ein,
»die sind bloß von Nathan.«
»Von wem?«
»Nathan Groomer. Einer unserer Deputys. Er hat schon ein paarmal versucht aufzuhören, schafft's aber einfach nicht.« Sachs seufzte, verzichtete aber darauf, ihm klar zu machen, dass ein Polizist, der an einem Tatort rauchte, augenblicklich vom Dienst suspendiert werden sollte. Sorgfältig suchte sie den Boden ab, doch die Mühe war vergebens. So weit sie sehen konnte, waren sämtliche Fasern, Papierfetzen oder andere Spuren entfernt oder vom Wind verweht worden. Sie ging zu der Stelle, an der heute Morgen die andere junge Frau entführt worden war, duckte sich unter dem Absperrband hindurch und schritt den Tatort rund um die Weide ab. Hin und her, immer weiter, obwohl ihr vor lauter Hitze schon schwindlig war.
»Rhyme, hier ist nicht viel... aber... Moment. Ich habe was.« Sie hatte etwas Weißes gesehen, dicht am Wasser. Sie ging hinunter und hob vorsichtig ein zusammengeknülltes Kleenex auf. Ihre Knie tobten - eine Folge der Arthritis, die sie seit fahren plagte. Lieber hinter einem Täter herrennen als Kniebeugen machen, dachte sie.
»Kleenex. Sieht genauso aus wie die, die ich bei ihm zu Hause gefunden habe, Rhyme. Nur dass an dem hier Blut ist. Ziemlich viel sogar.«
»Meinen Sie, Garrett hat es weggeworfen?«, fragte Lucy. Sachs musterte es.
»Das weiß ich nicht. Ich kann lediglich feststellen, dass es nicht über Nacht hier gelegen hat. Dazu ist es nicht feucht genug. Der Morgentau hätte es viel mehr aufgeweicht.«
»Ausgezeichnet, Sachs. Wo hast du das gelernt? Ich habe das, so weit ich mich entsinnen kann, niemals erwähnt.«
»Doch, das hast du«, sagte sie geistesabwesend.
»In deinem Lehrbuch. Kapitel zwölf. Papier.« Sachs ging hinunter ans Wasser und untersuchte das kleine Boot. Sie fand nichts.
»Jesse, können Sie mich rüberrudern?«, fragte sie dann. Selbstverständlich war er mit Freuden dazu bereit. Und sie fragte sich, wie lange es noch dauern mochte, bis er sie zum ersten Mal zu einer Tasse Kaffee einlud. Lucy stieg ebenfalls ins Boot, ohne auf eine Einladung zu warten, und sie legten ab. Alle drei ruderten schweigend über den Fluss, dessen Strömung erstaunlich stark war. Am anderen Ufer entdeckte Sachs Fußabdrücke im Schlamm. Von Lydia - das schmale Rillenprofil deutete auf Schwesternschuhe hin. Und Garretts Spuren - auf der einen Seite barfuß, auf der anderen ein Turnschuh, dessen Profil sie
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