Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
ob ich weiter arbeiten würde, wenn ich Kinder hätte«, sagte Lucy versonnen.
»Wie steht's mit Ihnen?«
»Ich führe zwar eine Waffe, mache aber hauptsächlich Tatortarbeit. Auf riskante Sachen würde ich mich nicht mehr einlassen. Auch ein bisschen langsamer fahren müsste ich. Derzeit habe ich in meiner Garage in Brooklyn einen Damaro mit dreihundertsech-zig PS stehen. Mit einem Kindersitz kann ich mir den beim besten Willen nicht vorstellen.« Sie lachte.
»Ich nehme an, ich müsste lernen, wie man mit einem Volvo-Kombi mit Automatik umgeht. Vielleicht könnte ich Fahrstunden nehmen.«
»Ich sehe Sie förmlich vor mir, wie Sie mit quietschenden Reifen vom Parkplatz des Supermarkts abzischen.« Danach breitete sich Schweigen aus, das Schweigen zweier Fremder, die sich ein paar Geheimnisse aus ihrem vertrackten Leben anvertraut haben und begreifen, dass sie nicht weiter gehen dürfen. Lucy schaute auf ihre Uhr.
»Ich muss zurück zur Dienststelle. Jim beim Telefonieren wegen der Suchaktion auf den Outer Banks helfen.« Sie schmiss die leere Flasche in den Abfall. Schüttelte den Kopf.
»Ich muss ständig an Mary Beth denken. Ich frag mich immerzu, wo sie ist, ob ihr was fehlt, ob sie Angst hat.« Amelia Sachs hingegen dachte in diesem Moment nicht an das Mädchen, sondern an Garrett Hanion. Eben weil sie gerade über Kinder geredet hatten, stellte Sachs sich nun vor, wie ihr zumute wäre, wenn sie einen Sohn hätte, den man des Mordes und der Entführung bezichtigte. Der damit rechnen musste, die Nacht im Gefängnis zu verbringen. Vielleicht hunderte von Nächten, wenn nicht gar tausende.
»Wollen Sie noch mal zurück?«, fragte Lucy kurz darauf.
»In ein, zwei Minuten.«
»Ich hoffe, wir sehen uns noch mal, bevor Sie aufbrechen.« Die Polizistin ging die Straße entlang. Ein paar Minuten später schwang die Tür des Gefängnisses auf, und Mason Germain kam heraus. Sie hatte ihn noch kein einziges Mal lächeln sehen, und auch diesmal war er todernst. Er blickte sich auf der Straße um, bemerkte sie aber nicht. Eiligen Schrittes lief er über den rissigen Gehsteig in Richtung Verwaltungsgebäude und verschwand in einem der Häuser einem Geschäft oder einer Bar. Dann hielt ein Wagen auf der anderen Straßenseite, und zwei Männer stiegen aus. Der eine war Cal Fredericks, Garretts Anwalt, der andere ein korpulenter Mann, etwa Mitte vierzig. Er trug Hemd und Krawatte - der oberste Kragenknopf stand auf, und der schlampig gebundene Schlipsknoten war ein paar Zentimeter heruntergezogen. Er hatte die Hemdsärmel hochgekrempelt und ein marineblaues Sakko über dem Arm hängen. Die braune Hose war heillos zerknittert. Er wirkte gütig und verständnisvoll, fast wie ein Grundschullehrer. Sie gingen hinein. Sachs warf den Becher in ein Ölfass vor dem Imbiss. Sie überquerte die leere Straße und folgte ihnen ins Gefängnis.
... Zwanzig
Cal Fredericks machte Sachs mit Dr. Elliott Penny bekannt.
»Oh, Sie arbeiten mit Lincoln Rhyme zusammen?«, fragte der Psychologe zu Sachs' Überraschung.
»Ganz recht.«
»Cal hat mir erzählt, dass man Garretts Festnahme hauptsächlich Ihnen beiden zu verdanken hat. Ist er hier? Lincoln, meine ich.«
»Er ist derzeit drüben in der Bezirksverwaltung. Vermutlich aber nicht mehr lange.«
»Wir haben einen gemeinsamen Freund. Ich würde gern kurz bei ihm vorbeischauen, wenn ich dazu komme.«
»Ein, zwei Stunden dürfte er noch da sein«, sagte Sachs. Sie wandte sich an Cal Fredericks.
»Darf ich Sie etwas fragen?«
»Ja«, erwiderte der Verteidiger vorsichtig. Immerhin arbeitete Sachs, zumindest theoretisch, für die Gegenseite.
»Mason Germain hat vorhin mit Garrett im Gefängnis gesprochen. Er hat Lancaster erwähnt. Was ist das?«
»Die Strafanstalt für Schwerstkriminelle. Er wird nach dem Haftprüfungstermin dorthin überstellt. Bis zum Prozess sitzt er dann dort ein.«
»Ist das eine Jugendstrafanstalt?«
»Nein, nein. Für Erwachsene.«
»Aber er ist sechzehn«, sagte Sachs.
»Oh, McGuire wird ihn wie einen Erwachsenen behandeln -wenn wir uns nicht einig werden.«
»Wie schlimm ist es?«
»Was, Lancaster?« Der Anwalt zuckte mit den schmalen Schultern.
»Er wird leiden. Daran führt kein Weg vorbei. Ich weiß nicht, wie schlimm. Aber leiden wird er auf jeden Fall. Ein Junge wie er steht in einer Strafanstalt für Schwerstkriminelle am untersten Ende der Hackordnung.«
»Kann er in Einzelhaft genommen werden?«
»Dort nicht. Alle Insassen sind im
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