Jeier, Thomas
Nahrungsangebots diente und es ihnen möglich war, in großen Siedlungen mit mehreren Hunderten von Einwohnern zu leben. Möglich machten diese Veränderung vor allem neue Maissorten, die mesoamerikanische Händler nach Nordamerika brachten. Die neuen Pflanzen waren robuster und weniger kälteanfällig, konnten selbst im kühleren Klima rund um die Großen Seen gedeihen. Statt 200 frostfreier Tage benötigte man nur noch 120 frostfreie Tage für eine gute Ernte - für damalige Verhältnisse eine Revolution. Mit dem Anbau und der wachsenden Bedeutung von Mais breiteten sich auch die Zeremonien, Tänze und Lieder, die sich um diese in Mesoamerika und im amerikanischen Südwesten heilige Pflanze rankten, verloren die Tiergeister, die für eine erfolgreiche Jagd verantwortlich waren, an Bedeutung, und die religiöse Verehrung der Sonne als Lebensspenderin wurde bedeutsam: Von ihrer Kraft hing eine ertragreiche Ernte ab. Die Ehrfurcht vor der neuen Gottheit und die Angst vor einem Misserfolg, der Hunderten von Menschen den Tod bringen würde, war so groß, dass die herrschenden Priester nun auch Menschenopfer darbrachten und während zahlreicher Zeremonien und Bestattungen vor allem entführte Sklaven anderer Völker auf den Altären vor ihren Pyramidenhäusern umbrachten.
Die »Stadt der Sonne« nannte man Cahokia. Überall an den Hauswänden und Mauern erinnerten Sonnensymbole an die besondere Bedeutung des Himmelskörpers, und abseits der Plaza zeigten die Holzpfosten eines gewaltigen Sonnenkalenders, den moderne Wissenschaftler in Anlehnung an das britische Stonehenge »Woodhenge« nannten, die genaue Zeit an. In der Mitte dieses Kalenders, dessen Ursprung (wie einst der »Sun Dagger« der Anasazi) wohl ebenfalls auf mesoamerikanische Vorbilder zurückging, ragte ein ungefähr zehn Meter hoher, rot bemalter Zedernpfahl empor. In einem nahezu perfekten Kreis umgaben ihn 48 kleinere Pfähle, darunter vier, die Westen, Osten, Norden und Süden markierten. Erst beim Bau einer Autobahn in den frühen 1960er Jahren hatte man abseits der »Mounds« die Überreste dieses überdimensionalen Kalenders freigelegt.
Wie in Mesoamerika herrschten auch die Priester während der Mississippian-Periode mit beinahe uneingeschränkter Macht. Als irdische Vertreter der Götter bestimmten sie die Verteilung der Feldfrüchte, behielten einen großen T eil der Ernte für ihren Eigenbedarf und für zeremonielle Zwecke zurück. In bedeutungsschweren Ritualen, die sie bis ins Detail von den Mesoamerikanern und nur zu einem geringen Teil von ihren Vorfahren übernahmen, verhalfen sie einer kleinen Elite ihres Volkes zu Reichtum und Wohlstand. Die breite Masse musste ihnen dienen. Aus dem losen Zusammenhalt der Clans von Jägern und Sammlern war ein hierarchisches Herrschaftssystem geworden, das strenge Gesetze und Regeln vorgab und so lange bestehen würde, wie es genug Nahrung gab. Die Macht der Priester gründete vor allem auf der Macht des großen Sonnengottes.
Cahokia war als erste präkolumbianische Metropole nördlich von Mesoamerika ein eindrucksvolles Monument dieser hochentwickelten Kultur. Selbst weit gereiste Händler müssen von der stattlichen Größe, der nach einem strengen geometrischen Muster angelegten Stadt, stark beeindruckt gewesen sein. Über 1000 Menschen, manche Schätzungen gehen sogar von acht- bis zwölftausend Bewohnern aus, sollen in den Häusern gelebt haben. Auf den gerodeten Flächen vor der Stadt lagen riesige Felder, rings um die Stadt loderten Feuer und hielten die Moskitos der nahen Sümpfe ab. Die Menschen arbeiteten auf den Äckern oder als Handwerker, auf den Straßen herrschte reger Betrieb, tummelten sich zahlreiche Hunde sowie domestizierte Truthähne. Rauchsäulen stiegen aus den Dachöffnungen der schilfbedeckten Häuser empor.
Den Mittelpunkt der Stadt bildete die weite, von einem Erdwall umgebene Plaza mit ihren riesigen Pyramiden, auf deren abgeflachten Spitzen die Priester in luxuriösen Häusern wohnten. »Monk’s Mound«, der größte dieser Erdhügel, ragte über 40 Meter empor und seine Basis war größer als die mancher Pyramide in Ägypten. Der Bau dauerte mehr als zwei Jahrhunderte, war verteilt über zwölf Phasen, und es mussten ungefähr 14 Millionen Körbe bewegt werden, um die Erde für dieses monumentale Bauwerk aufzuschichten. In der Erde fand man die sterblichen Überreste mächtiger Priester und Herrscher, zu erkennen an den wertvollen Grabbeigaben, aber auch Skelette von
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