Jemand Anders
körperlich und seelisch gereift das Internat verlassen – was kann es Schöneres geben, Edleres? Viele Generationen gedenkt er so zu erziehen, und wenn er einmal so alt ist wie Pater Xaver, der bereits auf die achtzig zugeht, wird er auf eine reiche Ernte zurückblicken können.
*
Es raschelt in den Büschen links von ihm. Hinter den Zweigen erkennt er den Felbinger Ferdl, der den Zeigefinger verschwörerisch bittend an die Lippen legt: nicht verraten!
Fidelis antwortet mit derselben Geste, milde lächelnd. Ein Präfekt weiß genau, was die Buben im dichten Gebüsch treiben: Sie bauen sich ihr Nest. Irgendwo im Park vergraben sie ihre Schätze, zu denen sie sich dann schleichen von Zeit zu Zeit. Einmal hat er in einem hohlen Baumstamm eine Schuhschachtel voll mit uraltem Brot entdeckt. Er kennt die Prozedur: Die Scheiben werden zuerst im Spind gehortet, bis sie hart sind wie Knäckebrot. Damit sie sich länger halten. Frisches, saftiges Brot gibt es kaum jemals im Konvikt, nur dieses zähe Zeug. Alles eine Frage der Wirtschaftlichkeit. Darauf achtet Schwester Romana, die Küchenchefin: dass die kleinen Lausbuben nicht zu viel verschlingen. Und darum finden es die meisten gescheiter, gleich etwas richtig Knackiges zum Beißen zu haben; hü oder hott, so lautet die unausgesprochene Devise. Wenn man nur lange genug darauf herumkaut, soll eine harte Rinde am Ende richtig süß schmecken.
Von solch einem Versteck im Park darf natürlich höchstens der beste Freund etwas wissen. Manchmal treffen sich ein paar Buben wie kleine Verschwörer und tauschen untereinander aus, was ihnen die Eltern alle vierzehn Tage, wenn sie übers Wochenende heimfahren dürfen, eingepackt haben. Gib mir ein Stück von deinem Speck, kriegst dafür ein Eck von meinem Geheimratskäse. Zum Drüberstreuen dann noch ein paar Lungenzüge Marke Liane. Schlingpflanzen gibt es jede Menge auf der Westseite des Parks, in diesem Dschungel turnen vor allem die Jüngeren herum wie Tarzan, schwingen sich von Ast zu Ast. Die getrockneten Lianen eignen sich als Zigarettenersatz, und gratis sind sie obendrein.
Selbstverständlich ist beides verboten: das Herumtollen in der steilen Gstätten, weil es nicht ganz ungefährlich ist, und das Rauchen auf dem Internatsgelände erst recht. Jedes einzelne Zündholz wäre laut Order des Pater Rektors abzunehmen. Aber Fidelis hat noch nie wen gemeldet, den er erwischt hat. Keinen Einzigen.
Nicht nur, weil das Saugen an Lianen sicher nicht süchtig macht. Er findet manche der Gebote im Heim einfach zu streng, unzeitgemäß.
Wenn man bedenkt, was sich die Pubertierenden draußen so alles reinziehen!
Selbst die bösesten Scherze der Konviktler sind doch vergleichsweise harmlos. Wenn sie sich zum Beispiel am Mittagstisch sekkieren wegen der Wilmas im Salat. Dabei handelt es sich um kleine weiße Maden, unvermeidlich bei den Massen von frischem grünem Salat, die im Internat auf den Tisch kommen. Die Buben haben sie Wilmas getauft. Wahrscheinlich, weil Wilma so ähnlich klingt wie Würmer im Dialekt. Oder wegen der Frau vom Fred aus der Familie Feuerstein, die Serie läuft gerade im Fernsehen. Sie ziehen einander gerne auf wegen der Wilmas im Blattsalat. Auch wenn gar keine drin sind. Am Ende sieht man unter jedem Blatt nur noch Wilmas.
„Du hast gerade eine geschluckt, yabba dabba doo!“
„Hab ich nicht!“
„Ich werd’s wohl wissen: Hab dir grad’ die meine spendiert, ha ha …“
Einem eine Wilma unterzujubeln, ob eine echte oder eine erfundene, das gehört einfach dazu zum Theater am Mittagstisch.
So wie das ständige Gerangel um den zweiten Gang .
Wobei es einen echten zweiten Gang gar nicht gibt. Nur einen Nachschlag desselben Gerichts, der aber wichtig ist, weil er erst die nötigen Kalorien sicherstellt. Den Kraftstoff für ihre Verbrennungsmotoren, die dauernd auf Vollgas laufen. Wer den Nachschlag verpasst, bleibt dünn und dürr. Wie der, den sie Seicherl nennen. Ein Extradürrer, eine Bohnenstange.
Wolferl, Wolfgang Niederl; genau, so heißt er.
Kein Wunder, dass man den Namen so leicht vergisst. Sogar seine Eltern vermeiden es, den Buben beim Vornamen anzureden. Vielleicht, weil selbst Wolferl schon zu scharf klingt für das Seicherl. Ob Seicherl von Säugling kommt? Immerhin ist der Bub mit Abstand der Jüngste in seiner Klasse. Sie haben ihn nämlich vorzeitig eingeschult, mit nicht einmal sechs, weil er so aufgeweckt war im Kindergarten und schon lesen und schreiben gekonnt hat, besser als
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