Jemand Anders
Nebengebäude, das immer den wenigen Maturanten unter den Konviktlern und ein paar Schwestern vorbehalten war, deren Regime sich auf Küche und Krankenstation beschränkte, kommt eine Gruppe von Leuten auf mich zu. Langsam, bedächtig, jeden Schritt messend. Wie Pater Xaver, wenn er im Park seine Runden drehte. Es sind gebrechliche Menschen, deutlich älter als ich. Ich grüße sie, und die Frauen beantworten freundlich meinen Gruß, während mich die beiden Männer nicht zu bemerken scheinen. Vielleicht sind sie bereits dement, so wie Onkel Gerhard, der seinen Neffen und Pfleger am Ende auch nicht mehr erkannte.
Jetzt weiß ich, was mich am meisten irritiert: die Stille! Wohin sind bloß all die Buben verschwunden? Ihr Lachen, ihr Weinen, ihr Geschrei?
„Entschuldigen Sie“, spreche ich die Dame an, die noch am agilsten wirkt. „Können Sie mir sagen, wo ich hier bin?“
Die schlohweißen, ein wenig ins Violette tendierenden Haare der Frau zittern – vor Vergnügen, wenn ich es recht interpretiere. Ihre Äuglein blinzeln mich verschmitzt an.
„Im Vorhof der Ewigkeit, lieber Herr. Ob im Vorhof zur Hölle oder zum Himmel, wird sich für die meisten von uns bald weisen.“
Sie kichert, und ihr Zeigefinger weist auf eine Plakette links am Eingangstor, die mir entgangen ist. Die Geste lässt mich unwillkürlich an Die Erschaffung Adams denken, Michelangelos Deckengemälde, das ich beim letzten Novizenausflug in der Sixtinischen Kapelle mit verrenktem Hals bewundern durfte.
SENIORENHEIM ROSENHÜGEL , steht in großen Lettern auf der Plakette zu lesen, eröffnet 1996 .
Die Franziskaner sind verschwunden, ausgestorben vermutlich, so wie hoffentlich bald alle in diesem – Verein. Ich knirsche mit den Zähnen. Nur konsequent, dass aus dem Knabeninternat ein Seniorenheim geworden war.
Im Vorhof der Ewigkeit, hat die alte Dame gesagt.
Die Ewigkeit … Sie ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.
Hatte nicht ein gewisser Pater Fidelis sie selbst terminiert?
Ich schnaube, leise und bitter: Unter Terminieren verstanden Bettelmönche früher das Sammeln von Almosen …
Aber lässt sich denn eine ewige Profess lösen wie ein Vertrag, den man einfach wieder aufschnürt, wie eine Ehe, die jederzeit geschieden werden kann? Wie könnte einer, der die ehelose Keuschheit gewählt hat, sich jemals scheiden lassen? Meine Fäuste massieren die Schläfen, sie sind dünn, gleich drücke ich sie ein. Kein Ausweg, mach dir keine Illusionen! Freiwillig bist du vielleicht hereingeraten, Bruder, aber raus kommst du uns nie und nimmer!
Bruder ...
Ich finde mich zurückkatapultiert in den glühenden Kessel der Seelenfresser, als wäre all das eben erst passiert, als hätte ich mich nicht selbst jahrzehntelang mit solchen Fragen gefoltert. Es hätte die Appelle und Ermahnungen seitens der Obrigkeit gar nicht gebraucht. Was Bischof und Provinzial zu meinem Austrittsbegehren gesagt hatten, waren dieselben Vorhalte, die ich mir machte: Die ewige Profess, Bruder, sie ist unauflöslich! Weißt du nicht mehr, was du vor Gott gelobt hast: für die ganze Zeit deines Lebens … in Gehorsam, ohne Eigentum und in Keuschheit … um so zur Vollkommenheit der Liebe zu gelangen im Dienste des Herrn, der Kirche und der Menschen. Hast du dich und deine Berufung nicht viele Jahre lang gewissenhaft geprüft, während all der Etappen auf deinem Weg zu Priester- und Mönchstum? Franziskanische Demut, Hingabe, die evangelischen Räte – sind das auf einmal keine Werte mehr für dich? Denk doch an all deine Exerzitien, an die Stunden des gemeinsamen Gebets, die gewachsene Gemeinschaft mit deinen Mitbrüdern! Willst du das jetzt wirklich alles hinwerfen?
Aber ich hatte ja nichts hinwerfen wollen – ich hatte es müssen!
Was zählt die Berufung, wenn dir der Glaube abhandengekommen ist! Oder kam mir der Glaube abhanden, weil der Kern meiner Berufung zerschlagen wurde mit dem Vorschlaghammer der Verleumdung? Wie willst du dich wehren gegen anonyme Beschuldigungen? Ich hatte alles verloren, als sie mich hinauswarfen aus meinem Heim, meiner Heimat. Entsorgten in ein Tiroler Kloster. Raubt man dir die Lebensenergie, raubt man dir auch den Glauben an den Spender allen Lebens. So furchtbar einfach ist das, so furchtbar. Am Ende kappte ich alle Bande. Nicht nur die offensichtlichen Fesseln, sondern die Bande jeglicher Rückbindung, jeglicher religio.
Ich war fertig mit allem und allen.
Zu fertig gar, um wo hinunterzuspringen …
*
Ich schüttle mich.
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