Jemand Anders
jeder Erstklässler. Aber das ist ein großer Fehler gewesen, hat der alte Niederl mehr als einmal gesagt. Er ist halt doch noch nicht reif genug gewesen für die Schul’.
Was Fidelis nicht glaubt. Er glaubt, die anderen sind noch nicht reif genug für einen wie ihn.
Was für ein Zarterl der Wolferl ist, sieht man schon beim Nachschlagfassen. Nicht, dass er nicht schnell genug essen oder seinen Teller nicht picobello abschlecken würde, weil ohne blitzblanken Teller musst du dich gar nicht erst anstellen um einen Nachschlag. Aber er rührt sich einfach nicht. So rühr’ dich doch!, sollte man ihm vielleicht sagen. Aber keiner sagt etwas.
Die Patres mischen sich aus Prinzip nicht ein in die Hackordnung am Tisch.
Und die Bohnenstange hockt da wie … na, wie eine echte Bohnenstange eben: steif, stocksteif. Vielleicht hat er Angst davor, sie würden ihn wieder wo abpassen, wenn er sich vordrängt. Wie an dem Tag, als sie ihn auf dem Klo gestellt haben.
Das hat der Peham Pauli gebeichtet. Weil das Seicherl ihnen angeblich ein dreistündiges Nachsitzen im Studiersaal eingebrockt hat. Niemand hat gewusst, ob wirklich das Seicherl schuld daran war, dass der Rex einen Schreikrampf gekriegt hat und sie um ihre nachmittägliche Sportstunde gekommen sind. Aber der Jüngste, Dünnste hat sich natürlich als Sündenbock angeboten. Wobei: Sünden schaf wäre eigentlich richtiger. Weil ein Bock würde sich mitunter doch wehren.
Was genau auf dem Klo passiert ist, hat der Pauli nicht gesagt, aber man kann es sich denken. Niemand, auch nicht der Wolferl, hat je darüber gesprochen.
Blaue Flecken oder so hatte er jedenfalls keine.
0010.amr
Wisst ihr Konviktler überhaupt, was Konvikt heißt?
Das hat der Lateinprofessor Muhr unsere Buben schon in der ersten Stunde gefragt. Wann immer er sie bloßstellen wollte, nannte er sie so: Konviktler . Sie, die täglich vom Rosenhügel hinunter ins staatliche Gymnasium liefen, der Stadtgang, der ihnen von keinem Präfekten gestrichen werden konnte. Eines Tages vertrauten sie sich mir an.
Der Professor hat gesagt, dass Konvikt gefangen bedeutet. Sind wir wirklich Gefangene, Pater Fidelis?
Aber woher denn, hab ich sie getröstet. Ihr wisst doch, dass es bei euch auf dem Land nur Volksschulen gibt, höchstens eine Hauptschule. Ohne dieses Internat wärt ihr nie ans Gymnasium gekommen. Nein, Buben, ihr gehört zu den Privilegierten, den Auserwählten! Eure Eltern zahlen nicht wenig dafür, dass ihr hier sein dürft. Oder habt ihr schon einmal gehört, dass Eltern dafür bezahlen, dass ihr Kind gefangen gehalten wird?
Meine Worte überzeugten sie. Auch wenn manche sich nachts die Augen herausweinten vor Heimweh. Auch wenn sie vom Aufstehen bis zum Schlafengehen von hunderten Geboten und Verboten umstellt waren und von einem drei Meter hohen, schmiedeeisernen Zaun rund um unseren Park, der das Internat abschirmte vor der profanen Welt draußen. Einmal kletterte ein Junge an den Gitterstäben hoch, er wollte sich, wie sich später herausstellte, heimlich den neuesten Zorrofilm im Gloriakino ansehen. Und er hatte es fast schon geschafft, musste nur noch hinunterspringen auf die Straßenseite; aber irgendwie rutschte er aus, und die eiserne Spitze bohrte sich durch seinen dünnen Jungenbauch …
Ja, ich war gut darin, sie zu beruhigen, und brav beteten sie nach, was ich ihnen eingetrichtert hatte: Wenn euch wieder einmal einer als Konviktler verhöhnt, nehmt es als Ehrentitel. Ihr wisst doch, ihr seid die Auserwählten …
So verdammt unschuldig war ich damals. Meine Tröstungsversuche: gleich naiv wie mein Glaube.
Man kann auch unschuldig Schuld auf sich laden …
Ich glaube, es war Pater Xaver, der das zu mir sagte.
Frühjahr 2003
Er hatte einiges an Hirnschmalz darauf verwenden müssen. Aber nachdem er die Sache erst einmal kühl analysiert hatte, wusste er schnell, was zu tun war. Angriff ist noch immer die beste Verteidigung. Eine gewisse Ruptur in der Reputation – sie vermag bisweilen wahre Wunder zu bewirken. Wie das schon klang, wie das alliterierte! Ein typisches Wortspiel Marke Bell. Dass es spontan und aus einer gewissen Bedrängung heraus geboren wurde, steigerte noch seine Originalität.
Zum Glück hatte er dieses Ass im Ärmel. Das er sich aufgespart hatte, als hätte er geahnt, dass es noch einmal benötigt werden würde. Als die 6c im Biologiesaal war, schlich er sich in ihre Klasse und platzierte die Geldtasche so in Joys Rucksack, dass sie beim Öffnen des
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