Jemand Anders
Die alte Dame sieht mich erstaunt an.
„Geht’s Ihnen nicht gut?“
Sie hat viele Falten, die meisten scheinen vom Lachen zu kommen. Eine wie sie hätte ich gerne zur Patin gehabt, mit oder ohne Sakramente.
„Danke, geht schon. Glauben Sie, ich dürfte mich in Ihrem Park ein wenig umsehen, auch wenn ich niemanden hier kenne? “
„Natürlich.“ Sie legt die Hand verschwörerisch an ihren Mund. „Aber an Ihrer Stelle würde ich so was gar nicht erst fragen. Man weiß nie, welche Antwort man bekommt, wenn man zu viel fragt. Frisch drauf los, junger Mann!“
Jetzt hat sie mir tatsächlich ein Lächeln abgerungen. Junger Mann … Das hat schon lange niemand mehr zu mir gesagt.
Ich verabschiede mich und spaziere langsam die Auffahrt hoch zum Hauptportal. Immer wieder bleibe ich stehen, schaue, vergleiche. Die Linde sieht immer noch aus wie ein gewaltiges, auf dem Kopf stehendes Herz, die Buben sind gerne in ihr herumgeklettert. Das Hallenbad aber, das sich auf der Rückseite des Schlosses befand und auf das wir so stolz waren, weil die Buben sich hier auch bei Schlechtwetter austoben konnten, ist verschwunden. Ein asphaltierter Parkplatz breitet sich an seiner statt aus.
Ich überquere ihn, um hinüber in den halb verwilderten Teil des Schlossparks zu gelangen.
Zur Gstätten. In den Dschungel. So haben die Buben ihn genannt.
Wo Schlingpflanzen von den Bäumen hingen.
Wo Tarzan seine erste Liane rauchte.
Frisch drauf los, junger Mann …
Juni 1974
Aber wenn einer eine wirkliche Geschichte weiß, glauben Sie, das kann verborgen bleiben? Bewahre, das spricht sich herum, besonders unter den Kindern!
Ein früher Juninachmittag, Pater Fidelis dreht seine Runden im Park. Er ist glücklich. Die dunklen Baumwipfel schlagen über ihm zusammen, der graue Kies knirscht unter seinen Sandalen.
Vertraute Geräusche. Vom Faustballplatz dringt das Geschrei der Kinder an sein Ohr. Er kann es nicht sehen, aber er weiß: Pater Klaus spielt wieder mit ihnen, tobt herum in seinem flatternden Habit, größer, stärker zwar als der Rest der Mannschaft, aber in diesem Augenblick nur ein übermütiger Junge wie alle anderen. Wie er den Lederball hochwirft, aufschlägt, haarscharf über die Leine schmettert er die harte Kugel, er beherrscht es wie kein Zweiter. Die Leine zu berühren würde eine Wiederholung des Aufschlags bedeuten, diesen Fehler erlaubt sich ein Pater Klaus nicht. Er hat die perfekte Statur für diesen Sport, selbst in einer Profimannschaft hätte er es weit bringen können. Die Kutte scheint ihn nicht zu behindern, er verfügt über den mächtigsten Aufschlag von allen. Auf dem Faustballplatz ist er ein kleiner Gott. Doch Fidelis ist nicht neidisch auf den älteren Bruder in Christo. Sport wird nun einmal großgeschrieben im Konvikt. Welches andere Internat verfügt Mitte der Siebzigerjahre über ein eigenes Hallenbad, über gleich zwei Fußball- und zwei Faustballplätze sowie etliche Tischtennistische? Und über diesen gigantischen Park, in dem es sich trefflich Verstecken oder Indianer spielen lässt.
Hier ist sein Zuhause, nein, viel mehr: Hier hat er seine wahre Heimat gefunden. Er ist noch kein Jahr im Konvikt zum Heiligen Rosenkranz, aber wenn es nach ihm ginge, könnte es immer so bleiben. Es geht ihm nichts ab. Schon während seines Theologiestudiums konnte er nicht begreifen, warum ihm die wenigen Freunde, die er an anderen Fakultäten hatte, ständig ihr Mitleid bekundeten. Er litt ja nicht, nicht im geringsten! Auf eine eigene Bude in der Stadt war er ebenso wenig erpicht wie auf die viel beschworenen neuen Freiheiten, von denen alle schwärmten. Die Kommilitonen betrachteten es offenbar als das Größte, sich die Haare lang wachsen lassen zu können und die Mädchen von Party zu Party zu schleppen. Wie früher im Dorf, wo man von Ball zu Ball zog. Sich jeden Abend zu betrinken und mit einer anderen ins Bett zu steigen – sollte das der Gipfel sein, das Ziel? Er hatte nur freundlich gelächelt, wenn man ihn dazu überreden wollte, mitzukommen: Ein einziges Mal, na komm schon! Nicht ein Mal war er schwach geworden. Er wusste, was er wollte, wonach es ihn im Herzen verlangte. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Wenn die Glocke zum gemeinsamen Abendgebet im Oratorium schlägt, läutet es auch in ihm.
Es ist ein hohes, fröhliches Läuten, spürt er doch: Dieser Tag war wieder ein erfüllter. Sinn-voll. Das gilt ihm weit mehr als jede Sinnlichkeit. Ein Sinn, der ihm geschenkt wird im Gebet,
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