Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jemand Anders

Jemand Anders

Titel: Jemand Anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kabelka
Vom Netzwerk:
Reißverschlusses fast zwangsläufig herausfallen musste. Das Ganze dauerte nur wenige Sekunden. Für die Lösung des Problems war nicht mehr Zeit erforderlich als für seine Entstehung droben im Kabinett, wo die Kleine ihn blöderweise erwischen musste.
    Die auffällige gelbe Geldbörse hatte er in der Jacke Gerd Lamprechts, seines Lieblingsschülers, gefunden, als er Aufsicht bei den Garderoben führte. Der Junge war ohne Frage intelligent, er konnte die längsten Balladen auswendig rezitieren. Aber er war dumm genug, die Hinweise auf die Besitzerin der Börse nicht verschwinden zu lassen. War sich wohl zu sicher gewesen, dass niemand den Dieb bestehlen würde. Und normalerweise hätte sich auch keiner um die Verlustmeldung der kleinen Sabine gekümmert, eine der zahllosen tränenreichen Anzeigen, die Woche für Woche im Sekretariat landeten, wobei der ganz sicher gestohlene Gegenstand meist schon am nächsten Tag wieder auftauchte. Aber er, Bell, hatte den richtigen Riecher gehabt, hatte sich den Generalschlüssel für die Spinde besorgt und ein bisschen Privatdetektiv gespielt. So war er fündig geworden, und enttäuscht zugleich: Ausgerechnet jener Schüler, der wie kein anderer an seinen Lippen hing, klaute einer Mitschülerin das Geldtäschchen. Sabines Jahreskarte für den Bus mit ihrem Konterfei darauf verriet Bell auf den ersten Blick, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
    Der Rest war eine Frage des Timings.
    Er musste nur wie zufällig neben Joy Sriwong stehen, als er befahl, die Literaturgeschichtebücher herauszuholen. Sie öffnete den Rucksack und zog an der dicken Schwarte. Die gelbe Geldtasche landete direkt neben Bells Schuhen.
    „Was haben wir denn da?“
    Eine dieser Lehrerfragen, die jeder Schüler fürchtet. Deren Tonfall bereits eine Entlarvung signalisiert, einen entdeckten Spickzettel zum Beispiel oder einen abgefangenen Liebesbrief. Nur dass es sich hier um etwas bedeutend Gravierenderes handelte. Was die Kleine wohl gespürt hatte, noch ehe er sich die Börse schnappte und in ihr zu wühlen begann.
    „Das … gehört nicht mir“, sagte sie mit kippender Stimme.
    Er legte die Hand an seine Ohrmuschel, als hätte er nicht recht verstanden, und beugte sich zu ihr hinab. Schaute ihr dabei direkt ins Dekolleté.
    Sie lief rot an. Puterrot. Die meisten dieser Halbwüchsigen wussten wahrscheinlich nicht einmal mehr, dass puterrot von Truthahn abgeleitet war, ihnen fehlte es an sprachlicher Finesse, erst recht an etymologischen Grundkenntnissen.
    Für ihn schwang auch noch putain mit, französisch für Hure. Er musterte das Mädchen mit einem verächtlichen Blick.
    „Aha. Und wem gehört es dann?“ Er hob das gelbe Ding in die Höhe, sodass alle es sehen konnten, sogar Gerd Lamprecht in der letzten Reihe. Aufgeklappt erinnerte die Geldtasche an einen überdimensionalen Zitronenfalter.
    „Ich … ich …“, stotterte sie.
    „Ja?“, sagte er eisig. „Bitte sehr, mein Fräulein. Wir warten auf Ihre Erklärung.“
    Bewusst verwendete er die Wir-Form. Ob hier der Pluralis Majestatis gemeint war oder tatsächlich alle Anwesenden in das peinliche Warten einbezogen werden sollten, blieb offen. Jedenfalls handelte es sich um ein bewährtes Mittel, um den Druck zu erhöhen. Er wusste, wie sie über ihn dachten, wie sie ihn fürchteten, wenn nicht gar verabscheuten. Aber das kümmerte ihn nicht. Er fühlte sich ausgezeichnet in seiner Rolle als meistgehasster Lehrer.
    In der Klasse war es mucksmäuschenstill.
    „Ja?“, wiederholte er und wandte den Kopf von ihr ab. Die Arme hatte er über der Brust verschränkt, Standbein und Spielbein in einer Pose, als warte er auf ein fernes Echo.
    „Ich … habe keine Erklärung dafür“, sagte sie mit erstickter Stimme.
    „Schade“, sagte er. „Wirklich sehr schade.“
    Er zog den Busausweis aus der Geldtasche und tat so, als müsse er erst den Namen darauf entziffern. „Eine gewisse …. Sabine Prießnig dürfte sich jedenfalls darüber freuen. Tja, des einen Freud, des andern Leid.“
    Sein Blick streifte über die Klasse. Den meisten sah man an, dass sie sich höchst unwohl fühlten in ihrer Haut. Alleine schon deshalb, weil sie nicht wussten, was sie von der Sache halten sollten. Aber wie hätten sie auch verstehen sollen, was wirklich im Busch war?
    Nur der Bursche hinten in der letzten Reihe schien sich zu amüsieren. Bell fragte sich, ob dahinter Naivität steckte oder Berechnung. Ahnte Gerd Lamprecht, dass ein anderes Opfer benötigt wurde und

Weitere Kostenlose Bücher