Jemand Anders
er, der wahre Täter, deshalb aus dem Schneider war? Zuzutrauen war es ihm.
Natürlich stand fest: Wegen eines einmaligen Diebstahls würde die Kleine nicht von der Schule fliegen. Zu Beginn seiner Lehrtätigkeit hätte das vielleicht gelangt; jetzt aber, wo jeder Gestörte mit ungünstigen psychosozialen Rahmenbedingungen entschuldigt wurde und selbst Verweise durch den Direktor oder Ermahnungen seitens des Landesschulrats nicht ausreichten, um einen renitenten Schüler endlich loszuwerden, brauchte es dafür schwerere Geschütze, mit stärkerer Durchschlagskraft.
Doch Bell war optimistisch: Mit seiner Erfahrung sollte es ihm nicht schwerfallen, solche Kaliber aufzufahren.
Blieb nur die Frage, ob sie ihrerseits nicht auch eine bestimmte Kanone in Stellung bringen würde.
Diesbezüglich galt es natürlich vorzusorgen.
*
In schlechten Zeiten erkennst du die wahren Freunde, hat Mama immer gesagt. Und: Die Ehre eines Mädchens ist das, was sie mit Zähnen und Nägeln verteidigen muss. Die Ehre eines Mädchens ist das höchste Gut, und es ist unwiederbringlich. Wie das Jungfernhäutchen, hat sie einmal hinzugefügt, aber da war sie ein bisschen betrunken, sonst hätte sie so etwas nicht gesagt. Von Mama habe ich jede Menge Weisheiten geerbt. Sonst leider nichts, keinen müden Cent.
Wieso musstest du uns so früh verlassen, Mama!
Danach zu urteilen, wie meine Klasse auf die Geschichte mit der Geldbörse reagiert hat, habe ich in der Schule keinen einzigen wahren Freund. Obwohl so gut wie alle Bell hassen, hat sich niemand auf meine Seite gestellt. Und auch sonst niemand. Mein Verhältnis zu Papa ist nie so eng gewesen, dass ich ihn ins Vertrauen gezogen hätte. Er hat von der Sache erst erfahren, als es offiziell wurde. Als der Direktor persönlich anrief und ihn zu sich bestellte. Dabei checkte er natürlich auch, dass ich, seine missratene Tochter, es gewesen war, die die schriftliche Mitteilung der Direktion an die Erziehungsberechtigten statt seiner unterschrieben hatte.
An dem Tag hat Papa erstmals die Hand gegen mich erhoben, ich habe den Schlag schon gespürt im Gesicht. Aber im letzten Moment hat er zurückgezogen und sich mit trauriger Miene von mir weggedreht. Ich wünschte, er hätte zugeschlagen! Auch wenn es ungerecht gewesen wäre. Weil ich abgesehen von der gefälschten Unterschrift nichts verbrochen hatte.
Aber man muss nichts Falsches tun, um alles falsch zu machen – das habe ich an diesem Tag gelernt.
Sie beschuldigen mich nicht weniger als dreier Vergehen: des Diebstahls, der mutwilligen Sachbeschädigung und des Telefonterrors.
Für Letzteres gebe es seit Neuestem einen eigenen Paragrafen, wurde Papa vom Direktor erklärt. Der redete so, als müsse er Papa, dem zugezogenen Piefke, verdeutlichen, dass sich sein feines Fräulein Tochter wie jede brave Österreicherin gefälligst an die Gesetze zu halten habe. Und an meine Adresse fügte er hinzu, dass ich die zweifelhafte Ehre hätte, als Erste an der Schule wegen Stalking belangt zu werden. Ohnedies habe man mir gegenüber großes Verständnis bewiesen, die Geduld meiner Lehrer sei sprichwörtlich gewesen, aber nunmehr zu Ende. Und sogar mein Status als Halbwaise mit migrantischem Hintergrund habe gebührend Berücksichtigung gefunden.
Aber nächtliche Morddrohungen am Telefon, das müsse sich nun wirklich kein Lehrer bieten lassen, damit hätte ich den Bogen eindeutig überspannt.
Welchen Bogen? Den, den sie seit Wochen alle um mich machen?
Eine Disziplinarkonferenz wurde einberufen, eigens wegen mir. Jetzt sind siebzig Lehrer allein schon deshalb sauer auf mich, weil sie ein paar zusätzliche Stunden in diesem Betonbunker abhocken müssen. Aber es werde keine Vorverurteilung geben, wird mir versichert. Und ich dürfe mir sogar einen Schülervertreter aussuchen, der mir bei der Konferenz zur Seite stehen könne. So großzügig ist man an unserer Schule! So unparteiisch!
Auch wenn der betroffene Kollege einer der erfahrensten ist am BG. Auch wenn er die besten Dienstbeurteilungen hat.
Wie soll ich mich gegen diese Anschuldigungen wehren? Welche Chance hast du gegen einen, der solche Superlative in sich vereint und siebzig Gleichgesinnte hinter sich weiß, die ihm den Rücken stärken?
Ich kann nicht beweisen, dass ich seinen Hass auf mich lenkte, indem ich ihm einige unbedachte Sekunden lang über die Schulter sah.
So blöd ist ein Bell nicht, dass er die Spuren auf dem Computer nicht schon längst gelöscht hätte. Wenn, dann
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