Jemand Anders
und in seiner Arbeit als Erzieher. Die Buben schätzen seine Geduld, wenn er ihnen beim Lernen hilft, wenn er sie lateinische Vokabeln abfragt oder für sie im Handumdrehen die kniffligsten mathematischen Probleme löst. Und erst recht, wenn er ihnen am Abend etwas vorliest oder erzählt.
Kurz bevor das Licht gelöscht wird im Schlafsaal, gibt es noch eine der Geschichten vom lieben Gott . Sie so, wie der Erzähler in Rilkes Buch es empfiehlt, weiterzugeben, als reines, uneigennütziges Geschenk, fällt Fidelis selbst nach einem langen Arbeitstag nicht schwer, bereitet ihm vielmehr Genugtuung. Schon die Tatsache, dass ein solches Buch geschrieben werden konnte, wertet er als eine Art Gottesbeweis. Es begeistert ihn, wie der Erzähler auf Dummheit, menschliche Arroganz und Bösartigkeit antwortet: nicht mit rechthaberischen Argumenten und Richtigstellungen, sondern indem er Geschichten von einfachen Menschen erzählt, die alles Negative aufheben im Exempel, im Gleichnis. Fidelis kennt sämtliche Erzählungen auswendig, dennoch blättert er immer wieder gerne in dem schmalen Band. Die Sprache des Verfassers, der im Erscheinungsjahr 1900 etwa im selben Alter war wie er jetzt (unglaublich eigentlich, es liest sich wie die Hinterlassenschaft eines weisen, lebenserfahrenen Mannes!), ist so schön, so geheimnisvoll, dass es bei jedem neuen Eintauchen wieder etwas zu entdecken gibt. Er badet in den Bildern wie in einem warmen, heilenden Moorbad. Warum der liebe Gott will, dass es arme Leute gibt , Wie der alte Timofei singend starb oder, die schönste von allen, Wie der Fingerhut dazu kam, der liebe Gott zu sein . Nicht zufällig spielen Kinder darin die Hauptrolle. Und es stimmt: Die Kinder kommen von selber, wenn einer eine wirkliche Geschichte weiß. Nur eine, die letzte in der Sammlung, erzählt er ihnen nie. Er weiß selbst nicht, warum. Vielleicht, weil sie, wie der Titel schon sagt, dem Dunkel erzählt ist.
„Sie sind der beste Präfekt, Pater Fidelis!“
Der kleine Schorsch hat es gestern zu ihm gesagt. Der Bub weiß nicht, was er ihm damit für eine Freude bereitet hat. Welch größere Genugtuung kann es für einen Erzieher geben, als Anerkennung zu finden in seinem Beruf, in dem, was ihm am meisten bedeutet? Es gibt nur eine Leidenschaft, die keine Leiden schafft, spürt er: jene für Jesus. Nie wird er dieses Haus verlassen, nicht freiwillig. Hier möchte er alt werden. Wenn man ihm eines fernen Tages anbieten sollte, Rektor in einem anderen Internat zu werden, er wird die Ehre dankend ablehnen. Wer würde von sich aus eine solche Heimat verlassen wollen! Hier, inmitten der lärmenden Jungs, hat er gefunden, was ein jeder sucht: Ruhe.
Diesem Ort will er für immer die Treue halten.
So, wie es in seinem selbst gewählten Ordensnamen steckt.
Er war sich bereits am Beginn seines Noviziats, als er theologisch noch ganz grün hinter den Ohren war, sicher: Fidelis, das wäre der richtige Name für dich. Denn fidel, das kommt vom Lateinischen fidelis : Treue. Mit der heutigen Verwendung von fidel hat das rein gar nichts zu tun. Erst die freigeistigen Studentenverbindungen haben die Bedeutung des Wortes verbogen. Mit ihrem viel gesungenen Krambambulilied zum Beispiel, wo es in der vierten Strophe heißt: Toujours fidèle et sans souci, c’est l’ordre du Krambambuli . So wurden Standhaftigkeit und Treue zu Unverbindlichkeit und Spaß umgemodelt – und das schon im achtzehnten Jahrhundert!
In dem Dreiervorschlag, den der Pater Provinzial ihm ein paar Wochen vor der feierlichen Einkleidung vorlegte, fand sich dann tatsächlich sein Wunschname, allerdings erst an dritter Stelle. Er reihte ihn vor auf Platz eins, unterstrich ihn doppelt und küsste den Umschlag wie ein frisch Verliebter den Brief an die Angebetete. Die Spannung blieb bis zuletzt aufrecht, denn erst bei der Feier selbst würde man erfahren, ob einem der Wunsch erfüllt worden war. Er erinnert sich an dieses Ereignis, als wäre es gestern gewesen.
Der Pater Provinzial sprach lange über die neue Identität, die im Ordensgewand und Ordensnamen nach außen sichtbar und hörbar werde. Als er endlich an der Reihe war und das erste Mal seinen neuen Namen vernahm, hätte er sich beinahe vergessen und einen Jubelschrei ausgestoßen: Fi-de-lis! Damit war für alle Zeiten klargestellt, dass seine Entscheidung für Jesus und Maria, seine Hingabe an Beruf und Berufung unumstößlich waren. Im Geiste des Heiligen Franziskus junge Menschen zu begleiten, bis sie
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