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Jemand Anders

Jemand Anders

Titel: Jemand Anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kabelka
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allen Unterschieden hatten sie doch das gemein: sich beweisen zu müssen, wie gut sie waren. Wie fit. Der eine mit der Langhantel, der andere auf dem Ergometer. Zwei Fünfzigjährige, die nicht lockerlassen konnten.
    Wie Johannes Reichert vom Rad fällt, sieht fast komisch aus; quasi in Zeitlupe kippt er vom Sattel auf den Boden. Auf dem Video ist zu erkennen, dass unsere Leute professionell reagieren. Gleich sind ein paar bei ihm und bringen ihn in stabile Seitenlage. Als sie merken, was mit ihm los ist, beginnen sie mit der Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage. Ich schau mir das Band jetzt schon zum dritten Mal an. Regina meint, ich solle es endlich gut sein lassen.
    „Wozu quälst du dich? Dem kann niemand mehr helfen!“
    Aber ich quäle mich doch nicht, ich will mich nur ... orientieren. Besonders jene Szene spiele ich vor und zurück, wo ich an der Bar stehe, neben mir der noch quicklebendige Johannes Reichert. Sein Lachen wirkt geisterhaft. Einerseits, weil kein Ton mitaufgezeichnet wurde, andererseits, weil es der letzte Blick auf sein Gesicht ist. Die Kamera, die sich direkt über der Theke befindet, hat seinen quergelegten Kopf unverhältnismäßig groß und perspektivisch verzerrt erfasst. Er grinst mich an, eine Hand verschwörerisch neben dem Mund. So, als wolle er vor anderen abschirmen, was er zu mir sagt. Worüber wir wohl gerade reden? Vielleicht hast du gesagt, er solle es nur nicht übertreiben, meinte Furat neulich, und dass ich Reichert auch früher schon ernsthaft ermahnt hätte. Aber danach sieht es ganz und gar nicht aus. Eher erzählt er mir etwas Lustiges von sich – oder macht er sich über jemand anderen lustig? Laut Furat hat Reichert immer einen dummen Blondinenwitz auf Lager gehabt. In seiner Rechten hält er ein volles Glas. Er nimmt Schluck um Schluck daraus, bis das Glas leer ist.
    Ich spule zurück. Reichert greift in eine kleine ovale Dose neben sich, entnimmt ihr zwei Kapseln, steckt sie sich in den Mund, spült nach. Beim Schlucken wirft er den Kopf zurück wie ein Vogel. Ein seltsamer Vogel.
    Nochmals drücke ich die Rücklauftaste. Furat steht hinten an der dampfenden Gaggia, Reichert unterhält sich mit einem Mädchen rechts von ihm. Dort, wo ich ein paar Minuten später stehen werde, befindet sich noch niemand. Nur die ovale Dose ist zu erkennen, sie liegt unmittelbar neben Reichert auf dem schmalen Tresen.
    Ich stelle mir die Szene mit Ton vor: das Pfauchen und Zischen der Espressomaschine; die angeregte Unterhaltung Reicherts mit dem Mädchen; die Musikbeschallung im Studio, die rund um die Theke für gewöhnlich am intensivsten ist.
    Von links kommt kurz eine Hand ins Bild. Greift nach der Dose und zieht sie an den äußersten Bildrand.
    Wer ist das? Was geschieht da? Es hat den Anschein, als ob der Deckel der Dose geöffnet würde. Aber das Bild ist zu unscharf und der Ausschnitt zu klein, um das sicher beurteilen zu können. In dem Augenblick taucht sie auf. Reginas Rücken verdeckt die ganze linke Bildhälfte. Nur einige Sekunden lang, offenbar ruft sie Furat etwas zu. Als der Blick auf die Theke wieder frei ist, steht die Dose an ihrem ursprünglichen Platz. Und, ganz ohne Zweifel: mit geschlossenem Deckel. Dann die Szene, in der Reichert nach den zwei Kapseln greift, sie in den Mund steckt, schluckt. Und jetzt trete ich hinzu. Und jetzt sein breites Grinsen ...
    „Was hältst du davon?“, frage ich Regina.
    Ihr Blick pendelt irgendwo zwischen verwundert und amüsiert. „Hast du mir nicht vorgeworfen, die Anschaffung der Videokameras sei hinausgeschmissenes Geld! Und jetzt schaust du dir das Video schon wieder an. Was gedenkt der große Detektiv denn herauszufinden?“
    „Sieh mal, die Hand da! Du bist doch unmittelbar daneben gestanden. Hast du jemanden bemerkt, der sich an dem Döschen zu schaffen machte?“
    „Ich bin nicht daneben gestanden“, widerspricht sie. „Ich bin daran vorbeigelaufen.“
    „Wie auch immer. Hast du etwas gesehen?“
    „Was hätte ich denn sehen sollen?“
    „Dass jemand die Kapseln ausgetauscht hat, zum Beispiel.“
    Sie lacht. „Natürlich nicht! Das hätte ich ja wohl der Polizei gemeldet, oder?“
    „Ja, natürlich.“
    „Die Kapseln ausgetauscht! Ich wusste gar nicht, dass du so eine blühende Phantasie hast, Edgar! Denk dran, wovor der Doktor dich gewarnt hat: Realität und Einbildung können bei so einer schweren Verletzung schon mal über Kreuz kommen. Nein, der Reichert ist schlicht und ergreifend kollabiert, kein

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