Jemand Anders
machen.
Für eine Generalamnestie der kleinen Missetäter, so viel ist klar, wäre Pater Rektor nie zu haben. Deshalb versucht Fidelis ihn zu überzeugen, dass jeder, auch der Schlimmste, eine Chance verdiene. Wie wäre es mit einer Schnitzeljagd draußen im Park, egal, ob es stürmt oder schneit? Die längste Zeit will der Rektor nichts davon wissen, doch in einer schwachen Minute nickt er, und die Schnitzeljagd wird womöglich zum Fegefeuer, das einem die Hölle ersparen kann. Die einfache Regel: Dem Ersten, der alle von Fidelis versteckten Hinweise findet und sie so zu ordnen weiß, dass er den Titel des nächsten Films nennen kann, ist die Strafe erlassen. Der ist wieder mit im Boot, mit leuchtenden Augen. Ach, wie schön Vergebung sein kann! Eine heile Welt.
Nein, keine heile Welt. Denn wie sich herausstellt, stürzen jene, denen nicht vergeben wird, in ein umso tieferes Loch.
Er konfrontiert den Rektor mit seinen Bedenken. Der schüttelt energisch den Kopf.
„Ich habe deinem Wunsch Rechnung getragen, trotz meiner Vorbehalte. Aber du musst verstehen, wie wichtig Regeln für unsere große Gemeinschaft sind. Und Regeln und Sanktionen gehören nun einmal zusammen. Wir können nicht bedingungslos verzeihen. Vergiss nie, Bruder, dass das Gute nur so lange Bestand hat, wie es sich vom Bösen abgrenzt.“
Er nickt gehorsam. Aber in seinem Innersten protestiert etwas gegen diese Aufspaltung der Welt.
Subiaco .
Er flüstert es vor sich hin wie ein Mantra. Sein ganz persönliches Mantra.
*
Es war die letzte Station der großen Pilgerreise gewesen, die sie während der vergangenen Sommerferien zuerst nach Assisi und dann nach Rom geführt hatte. Die meisten Teilnehmer waren Novizen aus allen drei österreichischen Franziskanerprovinzen, nur ein paar wenige ältere Patres nahmen die Mühe der langen Busfahrt auf sich. In Rom stand zur Wahl, ob man auch noch die Wirkungsstätte des Heiligen Benedikt besuchen oder lieber länger in der Heiligen Stadt bleiben wollte. Fidelis entschied sich für die Weiterfahrt, und er sollte es nicht bereuen. Wo Benedikt einst unter einfachsten Verhältnissen gehaust hatte, in einer natürlichen Höhle oberhalb des Dorfes Subiaco im Anienetal, befand sich jetzt ein gewaltiges Kloster, rund um die Grotte des Heiligen in den Fels gehauen und gemauert – ein Adlerhorst des Glaubens. Über mehrere Geschoße verteilten sich die Räume der Kirche, deren Wände übersät waren von Fresken, Ornamenten und Schriftzügen. Und die leuchtenden Augen der hier Verewigten hatten zu ihm gesprochen: Solche Schönheit, Bruder, ist der Lohn für dich und alle Minderbrüder, die nichts Minderes erstreben, als in den Dienst Christi zu treten. Ohne Vorbehalt, ohne Einschränkung, amen. Sogar Gevatter Tod, der, auf einem Schimmel reitend, das Schwert in den reichen Edelmann senkt, hatte ihm freundlich zugelächelt, so vereint hatte er sich gefühlt mit dem gesamten Kosmos. Ober- und Unterkirche von Subiaco standen ihm in seiner frommen Glut als Symbol dafür, dass es alles anzunehmen galt – Oben und Unten, Leben und Tod. Nicht einmal in der Basilika des Heiligen Franziskus hatte er dies so tief, so innig empfunden wie hier, im geistigen Zentrum des ältesten westlichen Ordens. Ora et labora et lege . Das Motto Benedikts. Hier hat er es sich zu eigen gemacht.
Wann immer er Zweifel verspürt, ruft er sich Subiaco in Erinnerung. Diese grenzenlose Communio , für die keine Hostie vonnöten ist. Oder er betet mit seinen Brüdern:
Herr, gib mir die Kraft, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Gelassenheit, das Unabänderliche zu ertragen, und die Weisheit, zwischen diesen beiden Dingen die rechte Unterscheidung zu treffen.
Und natürlich gibt es da noch den großen, schweren Anker namens Rainer Maria. Der, der einen hält in stürmischer See.
„Du bist das, was du liest“, hat ihm Pater Christoph, sein Noviziatsleiter, eingeschärft, „und deshalb verantwortlich für alles, was du liest. Das Lesegewissen – es will geschult und gebildet werden. Also wähle, aber wähle gut. Und frage dich immer: Führt mir der Odem Gottes jenes Buch zu, oder der Odem Luzifers.“
Bei Rilke stellt sich diese Frage nicht. Dessen Stimme eines jungen Bruders ist längst zu Fidelis’ Nachtgebet geworden:
Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.
Ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am meisten
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