Jemand Anders
Arme sich nach oben recken können. In Summe lautet das Ergebnis schuldig. Schuldig in allen Punkten. Der Antrag auf Ausschluss findet keine Gegenstimme. Nur zwei Kolleginnen enthalten sich der Stimme. Obwohl Enthaltungen bei solchen Abstimmungen eigentlich gar nicht vorgesehen sind.
Kratochwil ging großzügig über die kleine Unkorrektheit hinweg und schüttelte Bell beim Hinausgehen die Hand.
„Nun, Herr Kollege – zufrieden?“
Der hatte seine Hausaufgaben gründlich gemacht, auf eine solche Frage war er vorbereitet.
„Natürlich nicht ! Welcher Lehrer wäre zufrieden, wenn eine Schülerin von der Schule verwiesen wird.“
„Tja.“ Der Kopf des Direktors wackelte nachdenklich hin und her. „Ich verstehe, was Sie meinen, und es ehrt Sie. Aber wir sind nun einmal nicht im alten China, wo der Schüler den Lehrer noch darum bitten musste, dass er ihm etwas beibringt.“
Bell seufzte, demonstrativ laut.
„Manchmal müssen wir einfach klare Grenzen aufzeigen“, murmelte Kratochwil. „Auch das gehört zu unserem Job. Leider. Und ich sage es voraus: Wenn die Gesamtschule kommt, wird es noch um einiges härter werden.“
Mit gerunzelter Stirn ging man auseinander.
Draußen erhellte sich Bells Miene schlagartig. Ein Problem, das sich aufgelöst hatte in nichts. Die absolute Absolution. Und die Gesamtschule würde er ohnehin nicht mehr erleben, so viel stand fest.
Dafür hatte er bereits einen weiteren Plan in der Tasche.
Dezember 1974
Er fühlte eine nie gekannte Demut in sich und hatte selbst den Wunsch, irgendwie klein zu sein. Und eine Stimme kam: „Michelangelo, wer ist in dir?“Und der Mann in der schmalen Kammer legte die Stirn schwer in die Hände und sagte leise: „Du, mein Gott, wer denn sonst.“
Der Advent ist die Zeit, in der Fidelis sich am wohlsten fühlt.
Es kann ihm gar nicht kalt genug sein draußen im Park. Wenn abends die Kerzen angezündet werden auf dem riesigen Kranz, der von der Decke des Studiersaals hängt wie ein grüner Kronleuchter, wird einem jeden warm ums Herz. Der Kontrast von Warm und Kalt, von Dunkel und Hell – das ist doch das eigentliche Lebenselixier, nicht wahr?
Während dieser Tage bleiben die Buben auch übers Wochenende gerne im Konvikt. Sie spüren: Zuhause bei den Eltern könnte es nie so feierlich werden, wie wenn der Präfekt ihnen aus Reimmichls Weihnachten in Tirol vorliest, dem beliebtesten Werk des Pfarrers und Volksschriftstellers Sebastian Rieger. Von ihm stammt viel sittlich und religiös Aufbauendes, und Reimmichls Liebe zur Heimat ist ebenso wenig zu leugnen wie seine Vorbehalte gegenüber den Juden. Oder wenn es am Samstagabend den obligaten Ritterfilm gibt oder ein Mantel- und Degenstück. Die drei Musketiere kommen mit Abstand am besten an, der Film läuft jetzt schon zum vierten oder fünften Mal im großen Aufenthaltsraum, der sich durch das Herablassen der schwarzen Rouleaus und ein bisschen Umstuhlen schnell in einen Kinosaal verwandeln lässt. Sogar der Pater Rektor schaut sich den schwülstigen Schinken gerne an. Nicht wegen D’Artagnans Galanterie oder der wunderbaren Fechtkünste seiner Freunde Athos, Porthos und Aramis. Ihm hat es mehr der Kardinal Richelieu angetan, gespielt von Charlton Heston. Dabei hatte der mächtige Kardinal sicher nicht viel mit einem Franziskaner gemein.
Keinen stört es, dass der schwere, schwarze Apparat rattert, als würde er sich gleich in seine Bestandteile auflösen, und die Tonspur kratzt, dass die Dialoge kaum zu verstehen sind. Sie sitzen da mit offenem Mund und fassen sich unwillkürlich an den Händen, wenn der Degen des Helden zerbricht und ihm der Widersacher mit höhnischer Fratze die Klinge an den Hals setzt. Voller Anspannung und Konzentration sind die Buben, nichts vermag sie abzulenken. Nur wenn der Film einmal stecken bleibt und sich ein braun gerändertes Loch durch das unfreiwillige Standbild brennt, kann für Augenblicke Panik aufkommen. Aber Pater Klaus, der Filmvorführer, hat genügend Erfahrung. Er fädelt ein und fädelt aus, spult vor und zurück, schneidet und klebt; und sobald er sich dann lächelnd verbeugt und „Licht aus“ ruft und ihm alle applaudieren, ist die Glückseligkeit förmlich zu greifen.
So etwas darf man doch keinem Kind vorenthalten! Dass wegen jeder kleinen Verfehlung ein Filmverbot verhängt wird, findet Fidelis gar zu hart. Einer für alle, alle für einen, lautet das Motto der drei Musketiere. Fidelis beschließt, es zu seinem eigenen zu
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