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Jemand Anders

Jemand Anders

Titel: Jemand Anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kabelka
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mitten im Herzen.
    Ich möchte sterben. Lass mich allein.
    Ich glaube, es wird mir gelingen,
    so bange zu sein,
    dass mir die Pulse zerspringen.
    *
    Manchmal denkt er noch zurück an die Tage im Dorf. Vor allem dann, wenn einem Buben gewisse Ausdrücke auskommen. Sündhafte, bei Strafe verbotene, so wie Hure oder geil .
    Im Refektorium – die alten Patres haben sich schon zurückgezogen – erzählt er Pater Klaus Wandlinger Anekdoten. Meine Kirchengeschichte. Er war Chorsänger damals, weniger aus Leidenschaft als aus Familientradition. Und wegen gewisser Vorteile. Mit zehn, elf Jahren genoss man das Privileg, dort sitzen zu dürfen, von wo aus man den besten Überblick hatte. Aber ausgerechnet droben auf dem Chor habe es sich abgespielt wie in Sodom und Gomorrah. Jedenfalls verbal.
    „Die Sonntagsmesse war schließlich das soziale Ereignis damals, egal, ob man mit der Eucharistie etwas am Hut hatte oder nicht. Fünf Meter unter uns hockte, kniete oder stand in einem ständigen Wechsel von Auf und Ab das einfache Volk, links die Frauen, Mädchen und Kleinkinder, rechts die Männer und Burschen, die heroben keinen Platz fanden. Auf den Seitenchören thronten die Großgrundbesitzer und Dorfkaiser, deren rote Köpfe und pralle Bäuche einem flämischen Barockmaler als Vorlage hätten dienen können, und ein paar Schritte hinter uns tobte sich der Brandner aus, unser stets illuminierter, stets schimpfender Organist. Alles sehen und hören, alles in sich aufsaugen, um es später einmal, im fernen Erwachsenenleben, nach Bedarf anwenden zu können … Das war, unbewusst, die Devise von uns Chorbuben. Die Dialektik der Gegensätze erkennen und verinnerlichen. Wie zum Beispiel die Gleichzeitigkeit von demütigen Fürbitten und deftigen Organistenflüchen. Wenn der Brandner vom Leder zog, war das für jedermann zu hören.
    Komm schon, du alte Hur’!
    Damit meinte der Brandner keine betagte Chorsängerin, sondern die schon leicht baufällige Kirchenorgel, mit der ihn eine Art Hassliebe verband; wie mit einem Ehepartner, von dem du dich nach fünfzig Jahren einfach nicht scheiden lässt, auch wenn dir sein bloßer Anblick schon Magengeschwüre verursacht. Der Anschlag des Instruments war miserabel, der löchrige Blasebalg funktionierte nur mit starker Verzögerung, Aussetzer standen an der Tagesordnung und manche Registerzüge hatten längst den Geist aufgegeben. Dennoch waren und blieben die alte Hur’ und der alte Kantor unzertrennlich. Brandner behauptete von sich, er habe in seinen vierundvierzig Jahren als Organist nicht ein einziges Mal den Gottesdienst geschwänzt, und es gab niemanden, der das hätte bestreiten wollen. Krank zu werden erlaubte sich der starke Raucher, wenn überhaupt, nur an messefreien Tagen. Mit den Jahren passten sich sogar seine Hände dem Instrument an: Die Altersflecken auf seiner geräucherten Haut erinnerten an dessen Holzmaserung. Wer bloß nach ihm die Orgel schlagen solle, wurde er einmal gefragt. Untersteht’s euch , tobte Brandner, dass sich ja keiner an sie ranmacht! Als er schließlich einem Lungenkarzinom erlag und feierlich in der Dorfkirche aufgebahrt wurde, spielte trotzdem noch einmal einer auf der alten Hur’ : der Domkantor von St. Stephan in Wien höchstpersönlich. Brandners Ruf als glänzender Bachinterpret war bis in die Hauptstadt gedrungen, ohne dass wir davon etwas geahnt hätten.“
    Pater Klaus findet die Geschichte amüsant. „Dem Rex würde ich aber trotzdem nichts davon erzählen.“
    Das hat Fidelis auch nicht vor. Er weiß, dass der Rektor kein Organ für Ironie hat. Für ihn ist der Weg zum Himmel schmal und steil und nur mit ernster Miene zu erklimmen. Was schon ein bisschen schade ist.
    Aber seine Vorgesetzten kann man sich nun einmal nicht aussuchen.

5. April 2010
    Der Morgen beginnt mit einer Verweigerung: Ich lasse eine Bibelforscherin, die sich mit mir über die Bedeutung der Religion unterhalten möchte, nicht in die Wohnung.
    „Nichts für ungut“, sage ich so freundlich ich kann, denn der geflochtene Zopf der Frau erinnert mich an meine Oma, „aber wir wollen doch nicht riskieren, dass Ihre Glaubensgewissheit erschüttert wird. Wäre doch schade drum, oder?“
    Sie lächelt mich an. „Glauben Sie wirklich, Sie könnten das schaffen?“
    „Nein, wahrscheinlich eh nicht.“
    Ich schließe die Tür vor ihrer Nase. Immerhin darf ich mich brüsten, einer Zeugin Jehovas ein Lächeln entlockt zu haben.
    *
    Der Tod der beiden lässt mir keine Ruhe.
    Bei

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