Jene Nacht im Fruehling
auf den Mund. »Wenn du dich noch einmal bei mir bedankst, werde ich wütend.«
Doch als sie nun zu ihm aufsah, war sie sichtlich gerührt - was ihm gar nicht gefiel. Was er für sie getan hatte, war ein schlichter Akt von Nächstenliebe gewesen - etwas, das sie von jedem Menschen erwarten durfte.
»Möchtest du die Nacht mit mir im Bett verbringen?« fragte er.
Einen Moment lang sah Samantha erschrocken aus -fühlte sich verraten, weil er von ihr erwartete, daß sie sich auf diese Weise bei ihm bedanken sollte aber dann begriff sie, daß er sie nur verulken wollte. Sie lachte, den Moment der Entfremdung überwindend. »So dankbar bin ich dir nun auch wieder nicht.«
»Die Dankbarkeit kommt erst, nachdem du mit mir geschlafen hast«, erwiderte er, sie angrinsend.
»Verschwinde«, sagte sie lachend, und nachdem er sich noch rasch einen Kuß von ihr gestohlen hatte, verließ Mike das Badezimmer.
*
Er ging hinüber ins Gästezimmer und hörte nicht auf zu lächeln, während er sich auszog. Verflixt! Aber wie froh war er jetzt, daß sie bei ihm geblieben und nicht mit seinem spindeldürren Vetter nach Maine gefahren war. Zuweilen fiel es ihm schwer, sich daran zu erinnern, daß sie sich in Gefahr befand, wenn sie hier im Haus wohnte, und manchmal konnte er sich überhaupt nur noch an Sams Zusammensein mit seinen Freunden erinnern - mit allen seinen Freunden. Er war überrascht und zugleich erfreut gewesen, als Samantha weder über Daphne gelächelt noch die Nase gerümpft hatte, und sie hatte Corey und die anderen gemocht. Er wußte, daß seine Familie in Colorado Sam und Sam dieser gefallen würde. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie sich angeregt mit Jeanne über rosenfarbenen Damast unterhielt.
Bei dem Gedanken an seine Familie runzelte Mike die Stirn, weil ihm nun Sams seltsame Geschichte von der Uhr wieder einfiel. Was hatte sie nur mit den Uhren gemeint, die nicht wieder aufgezogen wurden? Er hatte so eine Ahnung, daß Sam ihm, falls er sie um eine Erklärung bitten sollte, eine zweite und dritte Geschichte dieser Sorte auftischen und er vielleicht niemals die Wahrheit herausfinden würde. Sie hatte ihn einen Lügner genannt, konnte ihm jedoch noch einiges beibringen, was die Verschleierung von Tatsachen anlangte.
Er nahm den Hörer vom Nebenapparat, der auf dem Nachttisch stand, ab, wählte die Nummer der Auskunft in Louisville, Kentucky, nannte den Namen und die Adresse von Daves Anwalt und bat um dessen Telefonnummer. Mike wußte, daß es schon spät war in Louisville, aber er kannte niemanden sonst, der ihm seine Fragen hätte beantworten oder ihm hätte sagen können, was mit Sam nach dem Tod ihrer Mutter geschehen war.
Als der Anwalt sich am anderen Ende der Leitung meldete, entschuldigte sich Mike rasch für die späte Störung und stellte dann seine Frage. Der Anwalt erteilte ihm daraufhin die ihn bestürzende Auskunft, daß Allisons Tod Dave in eine tiefe Depression versetzt hatte, die ihn für einige Jahre zu einem Pflegefall machte.
»Sein Zustand war so schlimm, daß wir ernsthaft daran dachten, ihn in eine geschlossene Anstalt einweisen zu lassen«, erklärte der Anwalt. »Aber wir brachten das einfach nicht übers Herz. Dave blieb in seinem Haus wohnen, das jedoch verdunkelt werden mußte, weil er kein Licht vertragen konnte. Er aß gerade so viel, wie er zum Überleben brauchte, und wollte außer seiner Tochter Samantha niemanden sehen. Sie war seine kleine Ersatzfrau, die für ihn kochte und das Haus sauberhielt. Das arme Kind verzichtete auf alles, was ein Mädchen ihres Alters normalerweise tut. Dave besaß einige Ersparnisse, so daß er nicht zur Arbeit gehen mußte, und Samantha mußte immer in seiner Nähe bleiben. Das arme, arme Kind. Es konnte nur zum Schulbesuch das Haus verlassen. Wenn sie in einem Mausoleum aufgewachsen wäre, hätte Samantha mehr Spaß gehabt als in diesem Haus bei Dave.«
»Wann hörte dieser Zustand auf?« fragte Mike.
»Dave wurde nie mehr der Mensch, der er vor Allisons Tod einmal gewesen war. Doch seine Ersparnisse gingen eines Tages zu Ende, und deshalb mußte er wieder in seinem früheren Beruf arbeiten. Inzwischen war Samantha ein Teenager, und Dave war so von ihr abhängig geworden, daß sie ihn auch weiterhin versorgte und den Haushalt führte. Wir waren alle froh, als wir hörten, daß sie heiraten sollte - froh, daß sie endlich ein eigenes Leben würde führen können.« Er zögerte. »Aber ihre Ehe war auch nicht gerade ein Erfolg, nicht
Weitere Kostenlose Bücher