Jenseits aller Vernunft
sondern diese. Einen Mann, der sich nach dem Balsam sehnte, den ihre weiche Stimme und ihr junger Körper zu geben versprachen.
Er sah sich selbst. Und das machte ihm eine Heidenangst.
Hastig ließ er sie los und sagte mit belegter Stimme, die ihnen beiden fremd war: »Ja, hast du prima gemacht.« Er nahm die Zügel und rutschte ein Stückchen von ihr ab. »Ich übernehme sie für den Rest der Strecke.«
Lydia konnte seine Gedanken nicht lesen. Einen atemlosen Augenblick lang hatte sie gedacht, er würde sie noch einmal küssen. Ihr war, als öffne sich ihr Inneres wie eine riesige Blume. Sie wollte noch mal seinen Schnurrbart an ihren Lippen spüren, wie sein Mund sich über dem ihren öffnete, wie seine Zunge in ihrem Gaumen spielte. Ihr Bauch kribbelte vor Genu ss , als sie daran dachte.
Aber es kam nicht soweit, und seit jenem Tag war er mi ss mutig gewesen bis jetzt, wo er ihr angeboten hatte, die Kaninchen für sie auszunehmen.
Nach der Mittagspause lenkte er die Pferde, schien aber nicht sehr gesprächig zu sein. Lydia gab sich große Mühe, ohne Erfolg. Also öffnete sie Winstons Buch und begann, zu buchstabieren.
»I-van-hoe.«
»Ivanhoe«, korrigierte Ross ihre Betonung.
Sie wandte den Kopf zu ihm. »Kannst du lesen, Ross?«
Er zuckte mit den Schultern, dass sie wusste , er wollte nicht weiter darüber reden. Und so war es. Erst seit er Victoria Gentry kannte, hatte er es nämlich gelernt. Sie hatte ihm immer abends nach der Arbeit Unterricht erteilt.
Nachdem er es konnte, war er über jedes Buch in der Bibliothek der Gentrys hergefallen, und seine Ausbildung hatte sich auch auf andere Gebiete erstreckt. Sie unterrichtete ihn in Geographie und Geschichte und brachte ihm bei, eine Reihe von Zahlen zu addieren und subtrahieren. Schon allein dafür, dass sie ihn unterrichtet hatte, ohne sich über seine Unwissenheit zu mokieren, hätte er Victoria geliebt.
»Was bedeutet das?« fragte ihn Lydia jetzt.
»Was?«
»Ivanhoe.«
»Das ist der Name eines Mannes.«
»Oh«, sagte sie und strich ehrfürchtig über das glatte Leder des Buches. »Gibt es auch eine Dame in der Geschichte.«
»Zwei, Rowena und Rebecca.«
»Was geschieht mit ihnen?«
Ross sah in ihr fragendes Gesicht und antwortete, wie Victoria ihm immer geantwortet hatte: »Lies es, dann findest du es heraus.«
Diese Herausforderung wollte sie annehmen. Sie hob stolz das Kinn. »Einverstanden«, sagte sie. »Hilfst du mir, wenn ich etwas nicht verstehe?« Er nickte.
Also hörte er während des restlichen Tages zu, wie sie sich durch die beiden ersten Seiten kämpfte. Am Abend waren sie müde, und Lydia voller Begeisterung über ihre neue Fertigkeit.
Ma kam zu Besuch und gab Lee die Flasche, während Lydia Kartoffeln schnitt und die Kaninchen an den Spieß steckte. Bubba rannte atemlos herbei. »Ross braucht ein paar Hufnägel. Er sagt, im Wagen wäre noch eine Tüte voll.«
»Ich hole sie«, sagte Lydia.
Als sie sie gefunden hatte, befahl Ma allerdings ihrem Sohn, seinem Vater zu helfen. »Lydia kann ihrem Mann die Nägel selbst bringen.«
Bubba war enttäuscht, dass er Ross nicht weiter zur Hand gehen durfte, aber nach der Sache mit Priscilla war er etwas zurückhaltender geworden. So verschwand er widerspruchslos.
»Ich sollte Lee selbst zu Ende füttern, damit auch Ihr das Essen für Eure Familie aufsetzen könnt«, wandte Lydia leise ein, obwohl ihr Herz bei Mas Vorschlag einen spürbaren Satz vollführte. Sie und Ross hatten so wenig Zeit für sich allein. Er kam oft erst, wenn sie schon schlief, und war bereits bei seinen Pferden, wenn sie aufstand, um Lee zu versorgen und das Frühstück zu machen. Sie hatte sich gefragt, ob er einfach nicht gern mit ihr zusammen war, besonders allein im Wagen.
»Anabeth kocht heute abend. Ich füttere lieber Lee, als mir über dem heißen Feuer den Rücken zu brechen. Geht nur.«
Lydia strich sich das Haar glatt und band die Schürze ab. Angesichts dieser Gesten lächelte Ma wissend und sah dann hinter der jungen Frau her, als sie in Richtung Pferdeweide aufbrach. Die Leute des Trecks respektierten und grüßten sie jetzt als Mrs. Coleman.
Ross war allein bei den Pferden, alle anderen waren schon zu ihren Wagen zurückgekehrt. Sie entdeckte ihn bei einer seiner Stuten, deren Mähne er bürstete, während er ihr gut zuredete. Lydia stellte beeindruckt fest, wie fabelhaft er aussah. Er hatte den Hut abgenommen, und die Spätnachmittagssonne erzeugte irisierende Reflexe auf seinem Haar.
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