Jenseits der Eisenberge (German Edition)
Kumien, ein Mann von annähernd Lamárs Alter, hatte die Waren der Karawane nur mit einem knappen Nicken gewürdigt. Auch die menschliche Fracht war ihm keinen zweiten Blick wert. Lediglich Lamár bedachte er mit einem laut ausgesprochenen Urteil:
„Der da kommt in Pocils Mine!“
Einige weitere Tage Leid unter Ruquinns Aufsicht, diesmal von keinem Mebana eingeschränkt, brachten Lamár an den Rand seiner Kräfte. Wie ein Stück Vieh musste er von früh bis spät gefesselt hinter einem Karren herlaufen, bis sie kurz nach Sonnenaufgang die Minen erreichten.
Und nun war er hier. Ein Sandplatz, umgeben von schiefen Lehmhütten und Holzhäusern, abgeriegelt von einem hohen Zaun, der von einem halben Dutzend Männer streng bewacht wurde. Männer, Frauen und Kinder jeden Alters arbeiteten hier, luden die Karren ab, flochten Körbe, trugen schwere Kisten herbei. Diese ausgezehrten Gestalten, eine jede von Hunger und Misshandlung gezeichnet, starrten Lamár nur kurz an, bevor sie sich wieder ihren Aufgaben zuwandten. Eine lange Reihe von kräftiger aussehenden Männern versammelte sich vor einer Hütte, sie hielten Werkzeug in den Händen – eindeutig Minenarbeiter.
„Hoffentlich stirbst du nicht zu schnell!“, zischte Ruquinn ihm ins Ohr und zerschnitt dabei die Fesseln. Lamár hatte längst aufgegeben nach dem Grund zu suchen, warum dieser Mann ihn so sehr hasste. Seine Erinnerungen waren fort, und jeder Versuch, nach ihnen zu greifen, endete in grausamen Kopfschmerzen und Panikanfällen, die ihn in die Knie zwangen.
„Das ist also der Neue?“ Ein fremder Mann war unbemerkt zu ihnen getreten. Eindeutig kein Sklave: Er war kräftig gebaut, seine Kleidung sauber, das blonde Haar kurz geschnitten, und in seinem Gürtel steckte eine Lederpeitsche. Lamár wusste sofort, dass er sich mit diesem Aufseher besser nicht anlegen sollte. Der Fremde musterte ihn mit hartem Blick.
„Mebana“, knirschte Lamár mit aller Unterwürfigkeit, die man ihm eingeprügelt hatte, und senkte gehorsam den Kopf. Sklaven durften ihren Herren nicht ins Gesicht starren. Auch eine Lektion, die er auf dem harten Weg gelernt hatte.
„Sieht stark aus. Wie heißt er?“ Der Aufseher sprach über Lamárs Kopf hinweg, als wäre der zu dumm oder unfähig, für sich selbst zu sprechen.
„Lamár. Das ist alles, was wir von ihm wissen, der hat den Verstand verloren. Völlig irre!“ Ruquinn lachte und wedelte mit der Hand knapp vor seinem Gesicht. Lamár unterdrückte nur mühsam den Impuls, diesem Bastard sämtliche Knochen zu brechen. Dieser kurze Moment des Triumphes wäre teuer erkauft, das wusste er. Seit dem Vorfall hoch oben auf dem Bergpass hatte er kaum noch Widerstand geleistet. Doch Ruquinns erbarmungsloser Hass brachte Lamár langsam an dem Punkt, wo er keinen Unterschied mehr sah zwischen „gerechter“ Bestrafung und Willkür. Es wäre demnach egal, ob er sich den Triumph entsagte oder nicht.
Dem fremden Aufseher schien dieser kurze Moment mörderischer Wut nicht verborgen geblieben zu sein, Lamár spürte seinen Blick auf sich ruhen.
„Völlig irre also? Nun, im Schacht wird ihm das nutzen, denke ich. Viele, die erst so spät versklavt wurden, verrecken dort unten, weil sie sich zu viele Gedanken über ihre Familien und Freunde machen, die sie niemals wiedersehen werden. Wenn der hier sich nicht erinnert, ob es überhaupt jemanden gibt, der ihn vermisst, umso besser.“
Eine Welle glühenden Schmerzes überrollte Lamár, ohne jede Vorwarnung. Stöhnend sank er zu Boden, umklammerte den Kopf, der zu zerspringen drohte. Das war ihm in den vergangenen Tagen häufig geschehen. Es zermürbte ihn noch mehr als Ruquinns Bösartigkeit. Dem Aufseher konnte er entkommen, wenn er sich demütig genug gab. Gegen die Anfälle gab es kein Mittel.
Als er wieder zu sich kam, fand er sich keuchend zu Füßen seiner Herren. Wahrscheinlich waren nur wenige Augenblicke vergangen, denn er hörte Ruquinn über sich sagen:
„… immer so. Einfach liegen lassen, der rafft sich gleich auf. Irgendwas in seinem Schädel ist kaputt.“ Der Schmerz verebbte zu einem erträglichen Pochen. Lamár erhob sich langsam, klopfte sich dabei den Staub von der Wollhose.
„Arkin! Komm her!“, brüllte der Aufseher und packte Lamár am Arm. Ein älterer, grauhaariger Mann löste sich aus der Reihe der Minensklaven und verneigte sich tief.
„Das hier ist ein Neuer. Er ist nicht ganz richtig im Kopf, ich verlasse mich darauf, dass du ihn zur Arbeit und Gehorsam
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