Jenseits der Eisenberge (German Edition)
ausziehen zu dürfen, die ihm ein ganzes Stück zu klein waren, und wollte sich auch die Arbeitskleidung vom Körper streifen. Doch Tiko hielt ihn auf. „Lass sie noch an, die wechseln wir oben. Nimm deine Sachen einfach mit.“
Auf Lamárs verwunderten Blick lachten die umstehenden Männer, die sich mittlerweile ihre normale Kleidung gegriffen hatten und darauf warteten, dass sie nach oben gezogen wurden.
„Wart’s ab, das ist das Beste des Tages!“ Sie wollten ihm nicht sagen, was sie meinten, also zuckte Lamár bloß die Schultern und beobachtete, wie der Förderkorb mit zwei Arbeitern quälend langsam in die Höhe gezogen wurde.
„Kann ich nicht einen anderen Weg nehmen?“, fragte er.
„Wenn du willst – aber dafür musst du gut klettern können“, erwiderte Arkin und wies auf einen schmalen Tunnel zur Rechten. „Die anderen Schächte sind allesamt zu eng für dich, du kannst nur den hier versuchen.“
Lamár folgte dem Gang und fand sich nach wenigen Schritten in einem roh aus dem Felsen herausgeschlagenen Schacht, der senkrecht in die Höhe führte. Oben, etwa zwanzig Schritt über seinem Kopf, sah er den wolkenverhangenen Himmel, ein kühler Windhauch streifte sein schweißnasses Gesicht. Er atmete tief die Luft ein, die ihm nach der staubigen Enge der Stollen so köstlich erschien wie ein Geschenk der Götter. Keinerlei Steighilfe befand sich hier im Schacht – wenn er auf diesem Weg nach oben wollte, musste er sich hochhangeln.
„Den Weg nehmen wir normalerweise nur, wenn hier unten was passiert und wir ganz schnell raus müssen, dann wird ein Seil herabgelassen. Die Wächter mögen das nicht, wenn wir andere Schächte nehmen “, sagte Tiko hinter ihm. „Nun komm, du hast den ganzen Tag die Hacke geschwungen, sag mir nicht, dass du die Kraft hast, dich da jetzt hochzuziehen.“
Lamár schüttelte den Kopf. „Ich mag den Korb nicht.“ Mit diesen Worten drückte er Tiko sein Kleiderbündel in die Arme, schob sich die Hacke so in den Gürtel, dass sie ihn nicht behinderte, und suchte mit den Fingern Halt in den Spalten im Fels.
„Sei vernünftig, wenn du abrutschst …“, begann Tiko. Dann verstummte er und pfiff vor Erstaunen, als Lamár sich kraftvoll in die Höhe zog, sich mit den Beinen an der Tunnelwand sichernd, und schon nach wenigen Augenblicken die Hälfte der Strecke überwunden hatte. Lamárs Arme und Schultern brüllten vor Schmerz, doch er biss trotzig die Zähne zusammen und quälte sich weiter, bis er oben angekommen war.
Dort starrten die Sklaven, die bereits dort warteten, ihn ebenso verblüfft an wie die Aufseher.
„Sieh an, unser kleiner Irrer ist ’ne verdammte Kletterspinne.“ Mattin lachte und schlenderte zu Lamár herüber.
„Spinnen werden zerquetscht, wusstest du das?“ Er baute sich vor Lamár auf und schubste ihn hart. Der senkte den Kopf und nickte unterwürfig.
„Lass das, Mattin. Pocil hat verboten, den Irren zu reizen.“ Ein anderer Aufseher kam heran und drückte Lamár mehrere Werkzeuge in die Hand. „Hier, wenn du schon so schnell oben bist, kannst du auch die Sachen in den Schuppen bringen.“ Mattin kratzte sich den struppigen Bart, schnaubte verächtlich, wandte sich dann aber um und stapfte zurück zu den anderen. Lamár kämpfte gegen die Wut in seinem Bauch. Er kannte sie mittlerweile gut, diese leise Stimme, die ihm einflüsterte, welche Schwachstellen sein Feind besaß. Die ihm unerbittlich aufzeigte, wo er zuschlagen musste, um Mattins Knochen zu brechen, ihn zu verkrüppeln oder zu töten. Je nachdem, was gerade angebracht schien … Diese Stimme sagte ihm, dass er alle fünf Männer ausschalten könnte, ohne Schwierigkeiten. Die Wächter trugen Peitschen und Schlagstöcke am Gürtel, waren es allerdings gewohnt, dass man ihnen gehorchte. Sie waren allesamt träge und langsam davon geworden, den größten Teil des Tages zu warten, dass die Arbeiter aus der Mine zurückkehrten. Nicht zu vergleichen mit Männern wie Ruquinn, die Handelskarawanen begleiteten und sich dabei mit Unwettern, durchgehenden Lasttieren, fluchtwilligen Sklaven und Räubern auseinandersetzen mussten. Die Stimme beharrte, dass Lamár nicht einmal eine Waffe brauchte und kaum mit Gegenwehr rechnen musste.
Er atmete ruhig ein und aus, trug das Werkzeug in den Unterstand und brachte dabei die Stimme energisch zum Schweigen. Es gab keinen Ort, zu dem er fliehen konnte, solange er nicht einmal wusste, aus welchem Land er stammte. Jeder Versuch, sich gegen die
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