Jenseits der Sehnsucht (German Edition)
konnte diese Urgewalt, diese zeitlose Energie, das Geheimnis des Lebens gewürdigt werden.
Eine Stadt würde sich schnell vom Schnee befreien, aber die Berge waren geduldig. Die Berge hatten Zeit und warteten auf die Sonne. Und während sie hier stand, den Wind und den Schnee um sich geschmiegt wie einen leidenschaftlichen Liebhaber, wünschte Sunny, sie könnte einen Teil hiervon mitnehmen, wohin auch immer sie ging.
Vom Fenster aus beobachtete Jacob sie. Sunny stand da wie eine Wintergöttin im wirbelnden Schnee. Ohne Kopfbedeckung, den Mantel nicht zugeknöpft, verharrte sie regungslos, während der Schnee ihr Haar bedeckte. Die Kälte hatte ihre Wangen gerötet, und sie lächelte. Sie schien ihm schöner denn je. Sie schien ihm unerreichbar. Und unbesiegbar.
Und er fragte sich, warum er sie in diesem Moment mehr begehrte als zu jenem Zeitpunkt, als sie fiebrig und leidenschaftlich seinen Kuss erwidert hatte.
Jetzt sah sie auf, als hätte sie seinen Blick gespürt. Durch den Schneevorhang trafen sich ihre Blicke. Jacob ballte unwillkürlich die Fäuste, sein Magen verkrampfte sich. Sunny lächelte jetzt nicht mehr, und trotz der Entfernung spürte Jacob die Wucht, mit der ihr Blick ihn traf und ihm die Knie weich werden ließ.
Hätte er sie jetzt berühren können, hätte er sie in seine Arme gerissen, ungeachtet der Konsequenzen. In diesem einen Moment, mit diesem einen Blick verschmolzen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem Ganzen. Jacob erblickte in ihr sein Schicksal.
Dann bewegte Sunny sich, schüttelte den Schnee aus ihrem Haar, und der Bann war gebrochen. Jacob sagte sich, dass sie nur eine Frau war, eine unvernünftige dazu, die sich in dieses Schneegestöber hinauswagte. Ihre Wirkung auf ihn würde nicht lange anhalten.
Aber er ließ sich viel Zeit, bevor er hinunterging, nachdem er sie ins Haus hatte kommen hören.
Sie war auf dem Sofa eingenickt, Bücherstapel zu ihren Füßen und neben sich auf dem Boden. Das Radio spielte, im Kamin knisterte das Feuer. Jetzt sah sie gar nicht mehr unbesiegbar aus. Vermutlich war es albern von ihm zu bemerken, wie ihre langen Wimpern Schatten auf ihre Wangen warfen. Wie weich ihre Lippen wirkten, so entspannt im Schlaf. Wie golden ihr Haar im warmen Schein des Feuers schimmerte.
Das waren Äußerlichkeiten, physische Attribute. In seiner Zeit konnte man solche Äußerlichkeiten jederzeit und völlig risikolos nach Wunsch ändern. Es machte das Leben einfach angenehmer, wenn man eine schöne Frau betrachten konnte. Aber das waren oberflächliche Dinge. Absolut oberflächlich und eigentlich unnütz.
Trotzdem blieb Jacob lange stehen und betrachtete die schlafende Sunny.
Mit einem Ruck setzte Sunny sich auf, als die Musik abbrach. Die plötzliche Stille hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Desorientiert und gereizt, wie sie immer nach dem Aufwachen war, schaute sie sich in dem dunklen Zimmer um. Das Feuer war heruntergebrannt, nur die Glut glomm noch schwach. Anscheinend hatte sie fest geschlafen, auch wenn sie das gar nicht vorgehabt hatte. Inzwischen war die Nacht herein- und die Stromversorgung scheinbar zusammengebrochen.
Mit einem Seufzer erhob sie sich vom Sofa und tastete sich auf der Suche nach Streichhölzern durch den Raum. Mit einer Kerze in der einen und Streichhölzern in der anderen Hand drehte sie sich um – und prallte gegen Jacob.
Sie schrie auf und sprang zurück, aber da hatte er schon seine Hände um ihre Schultern gelegt.
»Ich bins nur.«
»Das weiß ich auch«, zischelte sie. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie sich von ihm hatte erschrecken lassen. »Was machst du hier?«
»Bevor oder nachdem das Licht ausgegangen ist?«
Der Schimmer vom Kamin her reichte aus, um ihn grinsen zu sehen. »Der Sturm ist schuld«, erklärte sie. »Er hat die Leitungen lahm gelegt.«
Er ließ sie nicht los, auch wenn er sich dazu ermahnte. Seine Hände gehorchten ihm irgendwie nicht. »Möchtest du, dass ich das repariere?«
Ihr Lachen klang unsicher. Sie wünschte, sie könnte ihre Unruhe auf den ausgefallenen Strom schieben, aber sie war noch nie ängstlich im Dunkeln gewesen. Bis jetzt zumindest nicht. »Das ist etwas komplizierter als ein Toaster. Die Elektrizitätswerke werden sich darum kümmern.«
Er hätte sich sicherlich etwas einfallen lassen können, aber eigentlich hatte er nichts gegen die Dunkelheit. »Auch gut.«
Sunny atmete langsam aus. Bis sie wieder Licht hatten, war sie allein mit ihm. Zu der Tatsache, dass sie
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