Jenseits der Untiefen
spielte mit dem Buttermesser, dann legte er es auf seinen Teller.
Miles ging hinüber und wischte die Krümel mit der Hand vom Tisch.
»Wir können nicht hierbleiben, Harry«, sagte er.
Aber Harry sah nicht auf.
»George hätte nichts dagegen. Er ist bald wieder hier.«
Miles schüttelte den Kopf. Er zog seine Schuhe an.
»Ich gehe jetzt«, sagte er und hielt an der Tür inne. Er sah noch einmal zurück ins Zimmer. Harry saß noch immer mit gesenktem Kopf am Tisch.
»Joe ist weg, oder?«, sagte Harry leise.
Miles hörte ihn, aber er gab keine Antwort. Er konnte nicht.
H arry stellte die Milch in die Kühlbox zurück, schloss die Tür und rannte los.
Miles war schon weit hinter dem ersten Paddock, und Harry holte ihn erst in der Nähe der Straße ein. Als sie stehen blieben, wollte er Miles fragen, wohin sie jetzt gingen, aber Miles hielt eine Hand hoch zum Zeichen, dass er schweigen sollte.
Harry hielt den Mund. Er sah, wie Miles die Straße entlangschaute, nach rechts und nach links, wie er lauschte. Harry konnte keine Autos oder Lastwagen hören, er hörte nur sein Herz im Kopf schlagen. Er holte ein paarmal Luft.
»Wo gehen wir jetzt hin?«, fragte er.
Miles antwortete nicht. Er lief über die Straße und verschwand auf der anderen Seite im Gebüsch. Harry folgte ihm, aber es gab keinen Weg. Zweige schnipsten ihm ins Gesicht, und er rutschte mit seinen Sohlen auf dem glitschigen Boden voller Äste, Blätter und nasser Erde aus. Miles war weit vor ihm, er verschwamm mit dem Grau der Bäume und dem Grau des Himmels, und bald wäre er ganz verschwunden.
Harry blieb stehen. Er blieb einfach stehen, bewegte sich nicht und wartete.
Er zählte im Kopf. Und dann hörte er Miles durchs Gebüsch brechen, Zweige zerbrachen unter seinen Händen und Füßen, und er dachte, Miles wäre wütend. Aber er war nicht wütend. Er war blass. Er sprach ruhig.
»Ich bringe dich zu Stuart«, sagte er.
Harry sah ihn an. Das war nicht der Weg zu Stuart. Das war der schlimmste Weg, den sie wählen konnten, denn sie mussten sich durch Buschwerk schlagen und über Zäune klettern und Privatgelände überqueren. Aber das sagte er nicht. Er sagte gar nichts.
Es war wegen Dad. Miles hatte Angst.
Harry ging jetzt schneller. Er hielt sich dicht hinter Miles, er blieb dran.
Joe war wirklich weg. Er hatte nicht einmal auf Wiedersehen gesagt.
Stuarts Mum war im Morgenrock. Sie starrte auf die Schwellung über Miles’ Auge, und Miles sagte, dass er sich den Kopf auf dem Boot gestoßen hätte. Stuart drängte sich an seiner Mum vorbei und stand in der Tür. Er lächelte Harry an, und warme Luft strömte aus dem Inneren des Wohnwagens. Harry spürte sie auf dem Gesicht. Er war froh, hier zu sein, und wollte hineingehen.
Aber er wusste, dass Miles nicht bleiben würde.
»Ich bring dir später ein paar Sachen vorbei«, sagte Miles.
Und Harry hätte fast geweint beim Anblick von Miles’ Augenlid, zerschnitten und blau, wie es war – die Wunde an der Wange trat übel hervor. Harry schob eine Hand in die Tasche und tastete nach der Socke, in der das Geld steckte, das er noch besaß. Er zog die Socke heraus.
»Nimm du das«, sagte er. »Vielleicht brauchst du’s.«
Miles schüttelte den Kopf. »Das behältst du«, sagte er und versuchte zu lächeln.
Harry schaute Miles nach, als er wegging. Er schaute ihm nach, als er über den Paddock ging und in die Büsche, und er schaute ihm noch immer hinterher, als er schon längst verschwunden war.
Möglich, dass Stuart und er gerade hinten auf dem Grundstück gespielt oder dass sie Stuarts Mum beim Beerenpflücken geholfen hatten. Oder vielleicht waren sie auch im Wohnwagen beim Mittagessen gewesen, und Miles hatte nicht geklopft und auch sonst kein Geräusch gemacht, jedenfalls sah Harry ihn nicht. Nur der Rucksack und ein paar Kleidungsstücke lagen irgendwann neben der Tür des Wohnwagens, und im Rucksack, weit oben, lagen etwas Schokolade und die leuchtende orangefarbene Spielzeugpistole aus Harrys Bertie-Beetle-Überraschungstüte.
M iles ging jetzt langsam.
Der Boden war schlammig, und auf der Lichtung, weit weg von der Straße, waren vereinzelt noch die Stellen zu erkennen, an denen einmal Menschen gewohnt hatten. Alte Grundmauern lagen versteckt im kniehohen Gras. Orte, an denen einmal Häuser gestanden hatten.
Ein Haus. Ein Gehöft. Eine Familie. Ein Heim. Eingeklemmt zwischen Wald und Bergen und dem weiten kalten Himmel. Und wozu war es gut?
Dieser Ort.
Dads
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