Jenseits des Bösen
Verschnaufpause gönnen konnte, hörten seine verwirrten Sinne den Ruf so deutlich, daß er die Richtung ändern und ihm folgen konnte. Und das tat er mit einer Schnelligkeit, die er sich selbst gar nicht zugetraut hätte; obwohl seine Lungen rasselten, preßte er genügend Luft für ein paar Worte der Antwort an Fletcher aus ihnen heraus.
»Ich höre dich«, sagte er beim Laufen, »ich höre dich.
Vater... ich höre dich.«
319
XI
l
Tesla hatte recht gehabt. Sie war eine erbärmliche Krankenschwester, aber eine begabte Tyrannin. In dem Augenblick, als Grillo aufwachte und sie bei sich im Zimmer sah, erzählte sie ihm schon, daß es der Akt eines Märtyrers war, in einem fremden Bett zu leiden, und ihm nur zu gut bekam. Wenn er Klischees vermeiden wollte, sollte er ihr gestatten, ihn nach L.
A. zurückzubringen und seinen kranken Kadaver abzuladen, wo er vom Gestank seiner eigenen schmutzigen Wäsche
beruhigt wurde.
»Ich will nicht weg«, protestierte er.
»Was hat es für einen Sinn hierzubleiben, davon abgesehen, daß es Abernethy eine Stange Geld kostet?«
»Das ist doch schon mal was.«
»Werd nicht kleinlich, Grillo.«
»Ich bin krank. Da darf man kleinlich sein. Außerdem ist die Story hier.«
»Die kannst du besser daheim schreiben, als hier in einer Schweißlache zu liegen und dich selbst zu bemitleiden.«
»Vielleicht hast du recht.«
»Oh... sieht der große Mann gar etwas ein?«
»Ich gehe für vierundzwanzig Stunden zurück. Packe meine Scheiße zusammen.«
»Weißt du, du siehst aus wie dreizehn«, sagte Tesla in sanfterem Tonfall. »So habe ich dich noch nie gesehen.
Irgendwie sexy. Ich mag es, wenn du verwundbar bist.«
»Das sagt sie mir jetzt.«
»Schnee von gestern, Schnee von gestern. Früher hätte ich einmal meinen rechten Arm für dich hergegeben...«
»Und jetzt?«
»Jetzt fahre ich dich höchstens nach Hause.«
320
Der Grove hätte die Kulisse für einen Post-Holocaust-Film sein können, dachte Tesla, während sie mit Grillo in Richtung Freeway fuhr: Die Straßen waren völlig verlassen. Obwohl Grillo ihr gesagt hatte, was er gesehen hatte oder was seiner Vermutung nach hier vor sich ging, mußte sie abreisen, ohne auch nur einen Blick darauf geworfen zu haben.
Zu früh gefreut. Vierzig Meter vom Auto entfernt stolperte ein junger Mann um die Ecke und preschte über die Straße.
Auf dem gegenüberliegenden Gehweg verließen ihn die Kräfte.
Er fiel hin und schien Mühe zu haben, wieder aufzustehen. Die Entfernung war so groß und das Licht so düster, daß sie seinen Zustand nicht abschätzen konnte, aber er war eindeutig verwundet. Sein Körper hatte etwas Ungestaltes; er war bucklig oder geschwollen. Sie fuhr weiter auf ihn zu. Neben ihr schlug Grillo, dem sie befohlen hatte zu dösen, bis sie in L. A.
waren, die Augen auf.
»Sind wir schon da?«
»Der Junge...«, sagte sie und nickte in Richtung des Buckli-gen. »Schau ihn dir an. Der sieht noch kränker aus als du.«
Sie sah aus dem Augenwinkel, wie sich Grillo kerzengerade aufrichtete und zur Windschutzscheibe hinaussah.
»Er hat etwas auf dem Rücken«, murmelte er.
»Ich kann nichts sehen.«
Sie brachte das Auto ein Stück von der Stelle entfernt zum Stillstand, wo sich der Junge immer noch bemühte, auf die Beine zu kommen, was ihm immer noch nicht gelang. Jetzt sah sie, daß Grillo recht hatte. Er hatte tatsächlich etwas auf dem Rücken. »Es ist ein Rucksack«, sagte sie.
»Unmöglich, Tesla«, sagte Grillo. Er langte zum Türgriff.
»Es lebt. Was immer es ist, es lebt.«
»Bleib hier«, sagte sie zu ihm.
»Machst du Witze?«
Als er die Tür aufstieß - schon bei dieser Anstrengung drehte 321
sich alles in seinem Kopf -, sah er, wie Tesla im
Handschuhfach kramte.
»Was verloren?«
»Als Yvonne ermordet wurde...«, sagte sie und grunzte, während sie den Plunder durchstöberte, »... habe ich mir geschworen, daß ich nie wieder unbewaffnet aus dem Haus gehen würde.«
»Was sagst du da?«
Sie holte eine Pistole aus dem Versteck. »Und daran habe ich mich gehalten.«
»Weißt du, wie man damit umgeht?«
»Ich wünschte, ich wüßte es nicht«, sagte sie und stieg aus dem Auto aus. Grillo wollte ihr folgen. Als er das tat, rollte das Auto plötzlich rückwärts die sanfte Neigung der Straße hinunter. Er warf sich über den Sitz zur Handbremse, ein Vorgehen, das so heftig war, daß sich alles vor ihm drehte. Als er sich wieder hochzog, war es beinahe wie auf dem Karussell: völlige
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