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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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machte sich nicht die Mühe, auch für seine Gäste einzukaufen. Die lebten nur von Luft und Liebe.
    Er war nicht der einzige Kunde im Laden, der praktische 467
    Einkäufe - Haushaltsreiniger, Waschpulver und dergleichen -
    zugunsten von Fertigmahlzeiten und Billigfraß vernachlässigte.
    Obwohl er so abgelenkt war, fiel ihm auf, daß andere sich genau wie er selbst verhielten und ihre Körbe und
    Einkaufswägelchen gleichgültig mit Plunder füllten, als hätten neue Gewißheiten die alten Rituale von Kochen und Essen verdrängt. Er sah in den Gesichtern der Käufer - die er einmal namentlich gekannt hatte, an die er sich jetzt aber kaum noch erinnern konnte - dieselben heimlichtuerischen Mienen, wie er sie selbst sein ganzes Leben lang zur Schau getragen hatte. Sie erledigten ihre Einkäufe und taten so, als bemerkten sie gar nichts, was auf seine Weise auch wieder ein Geheimnis war.
    Als er an der Registrierkasse stand und zwei Handvoll Schokoriegel in den Wagen warf, sah er ein Gesicht, das er schon sehr lange nicht mehr gesehen hatte: Joyce McGuire. Sie kam Arm in Arm mit ihrer Tochter Jo-Beth herein. Wenn er sie überhaupt jemals zusammen gesehen hatte, dann mußte das gewesen sein, bevor Jo-Beth selbst eine Frau geworden war.
    Als er sie jetzt nebeneinander sah, machte ihn die Ähnlichkeit der beiden sprachlos. Er sah sie an und konnte nicht anders, er mußte an den Tag beim See denken, und wie Joyce ausgesehen hatte, als sie sich auszog. Er fragte sich, ob die Tochter unter der weiten Kleidung jetzt genauso aussah: kleine, dunkle Nippel, lange braungebrannte Schenkel?
    Plötzlich stellte er fest, daß er nicht der einzige Kunde war, der die McGuires anstarrte; praktisch alle anderen taten es auch. Und es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß allen anderen ähnliche Gedanken durch die Köpfe gingen: Hier hatte man leibhaftig einen ersten Hinweis auf die Apokalypse vor sich, die über den Grove hereingebrochen war. Vor achtzehn Jahren hatte Joyce McGuire ein Kind unter Umständen zur Welt gebracht, die lediglich skandalös erschienen waren. Und jetzt wagte sie sich wieder an die Öffentlichkeit, und das ausgerechnet zu einer Zeit, da sich die unglaublichsten 468
    Gerüchte im Zusammenhang mit dem Bund der Jungfrauen als zutreffend zu erweisen begannen. Es wandelten wahrhaftig Wesen im Grove - oder lauerten darunter -, die Macht über Menschen hatten. Ihr Einfluß hatte Kinder im Leib von Joyce McGuire Fleisch werden lassen. War es möglicherweise
    derselbe Einfluß, der seine Träume Wahrheit hatte werden lassen? Immerhin waren sie ja Fleisch aus seiner Seele. Er sah Joyce wieder an und begriff plötzlich etwas über sich, das ihm nie klar geworden war: daß er und die Frau - Betrachter und Betrachtete - für immer und ewig eine intime Beziehung zueinander hatten. Diese Erkenntnis dauerte nur einen Augenblick; es war zu schwer, sich länger auf etwas zu
    konzentrieren. Aber sie reichte aus, daß er den Einkaufskorb hinstellte, sich an der Schlange vor der Kasse vorbeidrängte und dann direkt auf Joyce McGuire zuging. Sie sah ihn kommen, und ein ängstlicher Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. Er lächelte ihr zu. Sie versuchte zurückzuweichen, aber ihre Tochter hielt sie an der Hand fest.
    »Schon gut, Mama«, hörte er sie sagen.
    »Ja...«, sagte er und streckte Joyce die Hand entgegen. »Ja, es ist gut. Wirklich. Ich... freue mich so sehr, Sie zu sehen.«
    Diese schlichte, mit so einfachen Worten ausgedrückte Empfindung schien ihr die Angst zu nehmen; ihre Miene wurde milder. Sie lächelte sogar.
    »William Witt«, sagte er und legte die Hand in ihre. »Sie werden sich wahrscheinlich nicht an mich erinnern, aber...«
    »Ich erinnere mich an Sie«, sagte sie.
    »Das freut mich.«
    »Siehst du, Mama?« sagte Jo-Beth. »So schlimm ist es gar nicht.«
    »Ich habe Sie schon so lange nicht mehr im Grove gesehen«, sagte William.
    »Ich war... unwohl«, sagte Joyce.
    »Und jetzt?«
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    Anfangs antwortete sie nicht. Dann sagte sie: »Ich glaube, es geht mir wieder besser.«
    »Das freut mich zu hören.«
    Während er sprach, hörten sie ein Schluchzen aus einem der Gänge. Jo-Beth bemerkte es mehr als alle anderen Kunden: Eine seltsame Spannung zwischen ihr und Mr. Witt - den sie jeden Morgen gesehen hatte, so lange sie zur Arbeit ging, aber nie so schlampig angezogen - nahm deren ganze
    Aufmerksamkeit in Anspruch; und alle anderen in der Schlange schienen sich ganz bewußt Mühe zu geben, das Schluchzen

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