Jenseits des Bösen
nicht zu hören. Sie ließ Mamas Arm los und machte sich auf die Suche nach der Ursache. Ruth Gilford, Sprechstundenhilfe bei Mamas Hausarzt, stand vor dem Regal der
Frühstücksflocken und hielt die Packung einer Marke in der rechten und die einer anderen Marke in der linken Hand; Tränen liefen an ihrem Gesicht hinab. Der Einkaufswagen neben ihr war vollgeladen mit weiteren Frühstücksflocken, als hätte sie einfach von jeder Marke eine Packung genommen, während sie an dem Regal entlanggegangen war. »Mrs. Gilford?« erkundigte sich Jo-Beth.
Die Frau hörte nicht auf zu schluchzen, versuchte aber, durch die Tränen zu sprechen, was zu einem wäßrigen und manchmal unverständlichen Monolog führte.
»... ich weiß nicht, was er will...«, schien sie zu sagen.
»... nach so langer Zeit... weiß nicht, was er will...«
»Kann ich Ihnen helfen?« sagte Jo-Beth. »Soll ich Sie nach Hause bringen?«
Als sie die Worte nach Hause hörte, drehte sich Ruth zu Jo-Beth um und versuchte, sie durch die Tränen hindurch zu erkennen.
»... ich weiß nicht, was er will...«, sagte sie wieder.
»Wer?« fragte Jo-Beth.
»... all die Jahre... und er verheimlicht mir etwas...«
»Ihr Mann?«
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»Ich habe nichts gesagt, aber ich wußte... ich wußte immer...
er liebt eine andere... und jetzt hat er sie ins Haus geholt...«
Die Tränenflut verdoppelte sich. Jo-Beth ging zu ihr, nahm ihr ganz vorsichtig die Packung Frühstücksflocken aus den Händen und stellte sie aufs Regal zurück. Daraufhin packte Ruth Gilford Jo-Beth fest.
»... hilf mir...«, sagte sie.
»Aber gerne.«
»Ich will nicht nach Hause. Er hat dort jemanden.«
»Schon gut. Wenn Sie nicht wollen, dann nicht.«
Sie versuchte, die Frau vom Frühstücksflockenregal wegzulocken. Als sie es hinter sich gelassen hatten, ließ auch ihre Ratlosigkeit etwas nach.
»Du bist Jo-Beth, richtig?« brachte sie heraus.
»Stimmt.«
»Bringst du mich zum Auto? Ich glaube nicht, daß ich allein dorthingehen kann.«
»Wir gehen, es wird schon alles wieder gut«, versicherte Jo-Beth und stellte sich rechts neben Ruth, um sie vor den Blicken der Wartenden in der Schlange abzuschirmen, sollten sie sich entschließen, sie anzustarren. Sie bezweifelte es aber. Ruth Gilfords Zusammenbruch war ein zu bewegender Anblick für sie; er würde sie nur um so deutlicher daran erinnern, welche Geheimnisse sie selbst kaum verbergen konnten.
Mama stand mit William Witt an der Tür. Jo-Beth beschloß, darauf zu verzichten, die Leute vorzustellen, zumal Ruth ohnehin nicht in der Verfassung gewesen wäre, zu reagieren, und sagte Mama statt dessen nur, daß sie sie beim Buchladen treffen würde, der immer noch geschlossen gewesen war, als sie ankamen. Lois machte zum ersten Mal in ihrem Leben zu spät auf. Aber Mama ergriff die Initiative.
»Mr. Witt bringt mich nach Hause, Jo-Beth«, sagte sie.
»Mach dir keine Sorgen um mich.«
Jo-Beth sah Witt an, dessen Gesichtsausdruck beinahe
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hypnotisiert war.
»Bist du sicher?« sagte sie. Bisher hatte sie noch nie darüber nachgedacht, aber vielleicht war ja gerade der stets makellose Mr. Witt genau der Typ, vor dem Mama sie all die Jahre über gewarnt hatte. Ein stilles Wasser, dessen Geheimnisse immer die ruchlosesten waren. Aber Mama bestand darauf und winkte Jo-Beth fast achtlos fort.
Verrückt, dachte Jo-Beth, während sie Ruth zum Auto
brachte, die ganze Welt ist verrückt geworden. Die Leute veränderten sich von einem Augenblick auf den anderen, als wäre ihr Verhalten die ganzen Jahre über nur vorgetäuscht gewesen: Mamas Krankheit, Mr. Witts Nettigkeit, Ruth
Gilfords Beherrschung. Erfanden sie sich alle neu, oder waren sie schon immer so gewesen?
Als sie beim Auto waren, wurde Ruth von einem erneuten, noch herzzerreißenderen Weinkrampf geschüttelt; sie
versuchte, wieder in den Supermarkt zurückzugehen, weil sie darauf bestand, sie könnte nicht ohne Frühstücksflocken nach Hause kommen. Jo-Beth überzeugte sie behutsam vom
Gegenteil und bot sich an, mit ihr nach Hause zu fahren, ein Angebot, welches dankbar angenommen wurde.
Während sie Ruth nach Hause fuhr, mußte Jo-Beth wieder an Mama denken; aber sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ein Konvoi aus vier schwarzen Limousinen sie überholte und den Hügel hinauffuhr; sie wirkten so fremd hier, als wären sie aus einer anderen Dimension gekommen.
Besucher, dachte sie. Als wären nicht schon genug hier.
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III
»Aha, es geht los«, sagte der
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