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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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zu, wobei sie sich nach besten Kräften bemühte, die Ruhe zu bewahren, die es Kissoon unmöglich machte, sie zu greifen. Die Frau kam weder näher, noch wich sie zurück. Tesla bekam mit jedem Schritt einen besseren Eindruck von ihr. Sie war um die fünfzig, die Augen waren, obschon tief in die Höhlen eingesunken, der lebhafteste Teil von ihr; der Rest war nur Erschöpfung. Sie trug eine Kette um den Hals, an der ein einfaches Kreuz hing. Das allein erinnerte an das Leben, das sie einmal geführt haben mochte, bevor sie sich in dieser Wildnis verirrt hatte.
    Plötzlich machte sie den Mund auf, und ihr Gesicht nahm einen zornigen Ausdruck an. Sie versuchte zu sprechen, aber entweder waren die Stimmbänder nicht mehr stark genug oder die Lungen nicht groß genug, daß die Worte die Distanz zwischen ihnen beiden überwinden konnten.
    »Warte«, sagte Tesla besorgt, die Frau könnte ihre letzten Kraftreserven vergeuden. »Ich komme näher.«
    Die Frau achtete nicht auf die Ermahnung, selbst wenn sie sie verstanden hatte, sondern fing wieder an zu sprechen und wiederholte etwas immer und immer wieder.
    »Ich kann dich nicht hören«, rief Tesla ihr zu und bemerkte, daß ihre Verzweiflung über den Zustand der Frau Kissoon Halt bot. »Warte, ja?« sagte sie und beschleunigte.
    Als sie näher kam, bemerkte sie, daß der Gesichtsausdruck der Frau nicht zornig war, sondern ängstlich. Daß sie nicht mehr Tesla ansah, sondern etwas anderes. Und daß das Wort, das sie ständig wiederholte, »Lix! Lix!« war.
    Sie wandte sich entsetzt um und sah, daß die Wüste hinter ihr von den Lix wimmelte: auf den ersten Blick ein Dutzend; auf den zweiten Blick zwei. Sie gleichen einander wie ein Ei dem anderen, wie Schlangen, denen jedes Wesensmerkmal genommen worden war, so daß sie zu drei Meter langen, 493
    zuckenden Muskeln wurden, die alle mit
    Höchstgeschwindigkeit auf sie zukamen. Sie hatte gedacht, daß diejenige, die sie damals vor der Tür der Hütte gesehen hatte, keinen Mund gehabt hätte. Sie hatte sich geirrt. Sie hatten Münder; weit aufgerissene schwarze Löcher mit schwarzen Zähnen. Sie wappneten sich bereits für den Angriff, als ihr - zu spät - klar wurde, daß sie nur als Ablenkung beschworen worden waren. Kissoon packte ihr Innerstes und zog. Die Wüste glitt unter ihr dahin, die Lix wichen auseinander, als sie durch ihre Mitte gezogen wurde.
    Vor ihr war die Hütte. Innerhalb von Sekunden stand sie auf der Schwelle, und die Tür ging auf Kommando auf.
    »Komm rein«, sagte Kissoon. »Es ist schon zu lange her.«

    Raul, der in Teslas Wohnung zurückgeblieben war, konnte nur warten. Er hatte keine Zweifel, wohin sie gegangen war oder wer sie geholt hatte, aber ohne die Möglichkeit, auch dorthin zu gehen, war er hilflos. Was nicht heißen sollte, daß er sie nicht spürte. Sein Körper war zweimal mit dem Nuncio in Berührung gekommen; er wußte, sie war nicht weit von ihm entfernt.
    Im Auto hatte Tesla versucht zu beschreiben, wie ihre Reise in die Schleife gewesen war, und er hatte sich verzweifelt bemüht, etwas in Worte zu kleiden, das er in den Jahren, die er in der Mission verbrachte, gelernt hatte. Aber sein Wortschatz hatte nicht für diese Aufgabe ausgereicht. Immer noch nicht.
    Aber was er gelernt hatte, hatte große Ähnlichkeit damit, wie er jetzt Tesla spürte.
    Sie war an einem anderen Ort, aber dieser Ort war lediglich eine Daseinsform, und jede Ebene konnte, wenn die
    Möglichkeiten dazu gefunden wurden, mit jeder anderen Ebene sprechen. Affe mit Mensch, Mensch mit Mond. Das hatte nichts mit Technologie zu tun. Es hatte mit der Unteilbarkeit der Welt zu tun. So wie Fletcher den Nuncio aus einer Suppe 494
    verschiedenster Disziplinen geschaffen und sich nicht darum gekümmert hatte, wo Wissenschaft zu Magie oder Logik zu Unsinn wurde; so wie Tesla wie ein träumender Nebel
    zwischen den Wirklichkeiten wechselte und etablierten Naturgesetzen trotzte; so wie er sich vom scheinbar Äffischen zum scheinbar Menschlichen entwickelt und gar nicht gemerkt hatte, wo das eine zum anderen wurde oder ob das jemals geschah; genau so konnte er, das war ihm klar, wenn er die Klugheit oder die Worte besaß - was nicht der Fall war -, zu jenem Ort vordringen, wo sich Tesla jetzt befand. Er war sehr nahe, wie alle Orte und Zeiten; Teil derselben Landschaft des Geistes. Aber er konnte nichts von alledem in Taten umsetzen.
    Das war ihm noch nicht möglich.
    Er konnte nur wissen und warten, was auf seine Weise wieder

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