Jenseits des Bösen
bekommen hatte, war ihr nicht genommen worden, aber als sie sich wieder aufmachte, geschah es leichteren Schrittes, als sie es bislang jemals erlebt hatte. Wie ein Spaziergang auf dem Mond: Ihre Schritte waren ausgreifend und mühelos, die Geschwindigkeit selbst für den schnellsten Sprinter unmöglich zu erreichen. Kissoon spürte, daß sie kam, denn er zog nicht mehr, wahrte aber seine Präsenz, als wollte er sie daran 490
erinnern, welche Kraftreserven er mobilisieren konnte, wenn er wollte.
Jetzt sah sie vor sich die zweite herausragende
landschaftliche Gegebenheit der Gegend hier, den Turm. Der Wind heulte um die gespannten Drahtseile. Sie bremste wieder ab, damit sie das Gebilde eingehender betrachten konnte. Es gab ziemlich wenig zu sehen. Der Turm war etwa dreißig Meter hoch, aus Stahl und hatte oben auf der Spitze eine auf drei Seiten von Wellblech umgebene Holzplattform. Sie hatte keine Ahnung, welche Funktion er hatte. Als Aussichtsturm schien er sinnlos zu sein, gab es doch so wenig zu sehen. Und er schien auch keinem technischen Zweck zu dienen.
Abgesehen vom Wellblech oben - und einer Art Päckchen, das in der Mitte hing - waren keinerlei Einrichtungen zu sehen, auch keine Überwachungsanlagen. Sie dachte ausgerechnet an Bunuel und ihren persönlichen Lieblingsfilm dieses
Regisseurs, Simon in der Wüste, eine satirische Vision des heiligen Simon, der vom Teufel in Versuchung geführt wurde, während er zur Buße auf einer Säule im Niemandsland saß.
Vielleicht war dieser Turm hier für einen ähnlich
masochistischen Heiligen erbaut worden. Wenn ja, war er zu Staub zerfallen oder zum Gott geworden.
Sie entschied, daß es hier nichts mehr zu sehen gab, entfernte sich von dem Turm und überließ ihn seinem heulenden,
geheimnisvollen Leben. Sie konnte Kissoons Hütte noch nicht sehen, wußte aber, sie konnte nicht mehr weit sein. Kein Staubsturm am Horizont verbarg sie; die Szenerie vor ihr -
Wüstenboden und der Himmel droben - war genau so wie bei ihrem ersten Ausflug hierher. Das kam ihr einen Augenblick merkwürdig vor: daß sich nicht das Geringste verändert zu haben schien. Vielleicht veränderte sich hier ja überhaupt nie etwas, überlegte sie. Vielleicht war dieser Ort ewig. Oder wie ein Film, der immer wieder gespielt wurde, bis die
Perforierung riß oder der Film im Projektor verbrannte.
491
Kaum hatte sie sich an den Gedanken des Unveränderlichen gewöhnt, kam ein unstetes Element in Sicht, das sie beinahe vergessen gehabt hatte. Die Frau.
Als Kissoon sie das letzte Mal zur Hütte gezogen hatte, hatte sie keine Möglichkeit gehabt, mit dieser anderen Akteurin auf der Wüstenbühne Kontakt aufzunehmen. Kissoon hatte sie sogar davon zu überzeugen versucht, daß die Frau ein Trugbild war, eine Projektion seiner erotischen Fantasien, der sie aus dem Weg gehen mußte. Nun, da die Frau so nahe war, daß sie ihr fast zurufen konnte, schien ihr eher die Erklärung ein Hirngespinst zu sein als die Frau selbst. So pervers Kissoon auch sein mochte, und sie zweifelte nicht daran, daß er seine Sternstunden hatte, die Gestalt vor ihr war keine Wichsvorlage.
Zugegeben, sie war fast nackt, die Fetzen, die sie am Leib trug, waren erbarmenswert unzureichend. Zugegeben, Intelligenz leuchtete in ihrem Gesicht. Aber an manchen Stellen schien ihr langes Haar ausgerissen worden zu sein, auf Stirn und Wangen war Blut schmutzigbraun getrocknet. Ihr Körper war mager und übel zugerichtet, Kratzer auf Schenkeln und Armen nur zum Teil verheilt. Unter den Fetzen eines einstmals weißen Kleides vermutete Tesla eine ernstere Verletzung. Das Kleid klebte an ihrer Leibesmitte, sie drückte die Arme dagegen und ging vor Schmerzen ganz gebückt. Sie war kein Pin-up und kein Trugbild. Sie existierte auf derselben Daseinsebene wie Tesla und litt.
Kissoon hatte, wie nicht anders zu erwarten, gleicht gemerkt, daß seine Warnung in den Wind geschlagen worden war, und zog wieder an Tesla. Diesmal war sie jedoch gut darauf vorbereitet. Anstatt gegen seine Berührung zu wüten, blieb sie ganz still stehen und bewahrte Ruhe. Seine geistigen Finger tasteten nach Halt und rutschten schließlich an ihren Innereien ab. Er griff wieder danach, rutschte wieder ab und griff. Sie reagierte nicht im geringsten, sondern blieb einfach, wo sie war, und ließ kein Auge von der Frau.
492
Diese stand aufrecht und hielt sich nicht mehr den Bauch, sondern ließ die Hände an den Seiten herabhängen. Tesla ging sehr langsam auf sie
Weitere Kostenlose Bücher