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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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das, was er aus seinen Opfern her-ausschwitzte: Angst.
    Obwohl er sich bis zur Unkenntlichkeit verändert hatte, war und blieb ein kleiner Teil von ihm immer noch Randolph Jaffe, und dieser Teil flüsterte ihm nun ins Ohr und sagte: Es ist gefährlich. Du weißt nicht, worauf du dich einläßt. Es könnte dich das Leben kosten.
    Nach so vielen Jahren war es ein Schock, die alte Stimme in seinem Kopf zu hören, aber es war auch seltsam beruhigend.
    Und er konnte sie nicht völlig außer acht lassen, denn es stimmte, was sie sagte: Er wußte nicht, was kommen würde, nachdem er die ›Kunst‹ benützt hatte. Niemand wußte das. Er hatte alle Geschichten gehört, sämtliche Metaphern studiert.
    Die Essenz war nicht buchstäblich ein Meer; die Ephemeris war nicht buchstäblich eine Insel. Es waren Bilder von Materialisten, um einen Geisteszustand zu beschreiben.
    Vielleicht den Geisteszustand. Und jetzt war er nur noch Minuten davon entfernt, die Tür zu diesem Zustand
    aufzustoßen, und wußte praktisch überhaupt nichts über dessen wahre Natur.
    Er konnte ebensogut zu Wahnsinn, Hölle und Tod führen wie zum Himmel und ewigen Leben. Er konnte es nur herausfinden, indem er die ›Kunst‹ tatsächlich anwendete.
    Warum die ›Kunst‹ überhaupt anwenden? flüsterte der Mann, der er vor dreißig Jahren gewesen war, in ihm. Warum genießt du nicht einfach die Macht, die du hast? Das ist doch mehr, als du dir je erträumt hättest, oder nicht? Frauen kommen hier herein und bieten dir ihre Körper an. Männer fallen vor dir auf die Knie, heulen Rotz und Wasser und bitten dich um Gnade. Was willst du noch? Was mehr könnte sich irgend 543
    jemand wünschen?
    Ursachen, lautete die Antwort. Einen Sinn hinter Titten und Tränen; einen Blick auf das größere Bild.
    Du hast alles hier, sagte die alte Stimme. Besser wird es nicht. Es gibt nicht mehr.
    Es klopfte leise an die Tür: Lamars Kode.
    »Warte«, murmelte er und versuchte, sich auf das Streitge-spräch zu konzentrieren, das in seinem Kopf ablief.
    Vor der Tür klopfte Eve Lamar auf die Schulter.
    »Wer ist da drinnen?« sagte sie.
    Der Komiker lächelte ihr knapp zu.
    »Jemand, den du kennenlernen solltest«, sagte er.
    »Ein Freund von Buddy?« sagte sie.
    »Könnte man sagen.«
    »Wer?«
    »Du kennst ihn nicht.«
    »Warum sollte sie ihn dann kennenlernen?« sagte Grillo. Er ergriff Eves Arm. Sein Verdacht war jetzt Gewißheit
    geworden. Hier oben herrschte ein übler Geruch vor, und hinter der Tür waren mehr Geräusche als nur von einer Person zu hören.
    Die Aufforderung einzutreten wurde ausgesprochen. Lamar drehte den Türknauf und öffnete.
    »Komm, Eve«, sagte er.
    Sie befreite den Arm aus Grillos Griff und ließ sich von Lamar einen Schritt in das Zimmer führen.
    »Es ist dunkel«, hörte Grillo sie sagen.
    »Eve«, sagte er, drängte sich an Lamar vorbei und streckte durch die Tür die Hand nach ihr aus. Es war tatsächlich dunkel, wie sie gesagt hatte. Der Abend hatte sich über den Hügel gesenkt, und das bißchen Licht, das durchs Fenster hereinfiel, reichte kaum aus, das Zimmer in Umrissen deutlich zu machen.
    Aber Eves Gestalt vor ihm war sichtbar. Er ergriff wieder ihren Arm.
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    »Genug«, sagte er und drehte sich wieder zur Tür um. Kaum hatte er das getan, traf ihn Lamars Faust mitten ins Gesicht, ein fester, unerwarteter Schlag. Seine Hand glitt von Eves Arm herunter; er fiel auf die Knie und schmeckte das eigene Blut in der Nase. Hinter ihm schlug der Komiker die Tür zu.
    »Was geht hier vor?« hörte er Eve sagen. »Lamar! Was geht hier vor?«
    »Kein Grund zur Beunruhigung«, murmelte der Mann.
    Grillo hob den Kopf, worauf ihm ein heißer Schwall Blut aus der Nase lief. Er hielt die Hand vors Gesicht, um ihn einzudämmen, und sah sich in dem Zimmer um. Den kurzen Augenblick, als er das Innere gesehen hatte, war er der Meinung gewesen, es wäre mit Möbeln vollgestopft. Er hatte sich geirrt. Es waren Lebewesen.
    »Lam...«, wiederholte Eve, aus deren Stimme jeglicher Schneid verschwunden war. »Lamar... wer ist hier oben?«
    »Jaffe...«, sagte eine leise Stimme. »Randolph Jaffe.«
    »Soll ich das Licht anmachen?« fragte Lamar.
    »Nein«, kam die Antwort aus dem Schatten. »Nein, nicht.
    Noch nicht.«
    Grillo kannte die Stimme und den Namen trotz seines
    Brummschädels. Randolph Jaffe: der Jaff. Und diese Tatsache verriet ihm die Identität der Gestalten, die in den dunkelsten Ecken dieses großen Zimmers lauerten. Es wimmelte von den

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