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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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durch das Haus und suchte nach ihr. Jedes Zimmer hatte seinen eigenen Geruch, und jeder Geruch eine Summe von Erinnerungen - was er an diesem oder jenem Ort gesagt, getan oder empfunden hatte -, die in ihn strömten, wenn er unter den Türen stand.
    Jo-Beth war nicht unten, daher ging er nach oben und riß jede Tür im Flur auf; zuerst die von Jo-Beth, dann die von Mama; zuletzt seine eigene. Das Zimmer war, wie er es verlassen hatte: das Bett nicht gemacht, der Schrank offen, das Handtuch auf dem Boden. Er stand unter der Tür, und ihm wurde klar, daß er die Habseligkeiten eines Jungen betrachtete, der so gut wie tot war. Der Tommy-Ray, der in diesem Bett gelegen, geschwitzt, sich einen runtergeholt, geschlafen und von Zuma und Topanga geträumt hatte, war für immer dahin.
    Schmutz am Handtuch und Haare auf dem Kissen waren die letzten Spuren von ihm. Er würde in keiner guten Erinnerung bleiben. Tränen rannen ihm über die Wangen. Wie hatte es geschehen können, daß er vor nicht einmal einer Woche noch am Leben gewesen und seinen Angelegenheiten nachgegangen war und sich jetzt so verändert hatte, daß er nicht mehr hierhergehörte und niemals wieder hierhergehören konnte?
    Was hatte er so sehr gewollt, daß er sich selbst untreu geworden war? Nichts, das er bekommen hätte. Es war sinnlos, der Todesjunge zu sein: nur Angst und leuchtende Knochen.
    Und daß er seinen Vater kannte: Welchen Nutzen hatte das?
    Anfangs hatte ihn der Jaff gut behandelt, aber das war ein Trick gewesen, um ihn zum Sklaven zu machen. Nur Jo-Beth liebte ihn. Jo-Beth war ihm gefolgt, hatte versucht, ihn zu heilen, ihm zu sagen, was er nicht hören wollte. Nur sie konnte alles wieder gutmachen. Ihn verstehen. Ihn retten.
    »Wo ist sie?« wollte er wissen.
    Mama stand unten an der Treppe. Sie hatte die Hände vor 570
    sich gefaltet und sah zu ihm auf. Wieder Gebete. Ständig Gebete.
    »Wo ist sie, Mama? Ich muß sie sprechen.«
    »Sie gehört nicht dir«, sagte Mama.
    »Katz!« kreischte Tommy-Ray und ging zu ihr hinunter.
    »Katz hat sie!«
    »Jesus sagte... Ich bin die Auferstehung und das Leben...«
    »Sag mir, wo sie sind, sonst weiß ich nicht, was ich tun werde...«
    »Wer an mich glaubt...«
    »Mama!«
    »... und sei er tot...«
    Sie hatte die Eingangstür offengelassen, und nun wehte Staub über die Schwelle, anfangs unbedeutende Mengen, aber zunehmend mehr. Er wußte, was das zu bedeuten hatte. Der Gespensterzug kam in Bewegung. Mama sah zur Tür und der tosenden Dunkelheit dahinter. Sie schien zu begreifen, daß etwas Tödliches vor sich ging. Als sie ihren Sohn wieder ansah, standen ihr Tränen in den Augen.
    »Warum mußte es so kommen?« sagte sie leise.
    »Ich wollte es nicht.«
    »Du warst so schön, mein Sohn. Manchmal habe ich
    gedacht, das würde dich retten.«
    »Ich bin immer noch schön«, sagte er.
    Sie schüttelte den Kopf. Die Tränen quollen über die Lider und liefen an den Wangen hinab. Er sah wieder zur Tür, die der Wind hin und her warf.
    »Bleibt draußen«, sagte er.
    »Was ist da draußen?« sagte Mama. »Dein Vater?«
    »Das sollte dich nicht interessieren«, sagte er.
    Er eilte die Treppe vollends hinunter, um die Tür zuzumachen, aber der Wind stob mit zunehmender Heftigkeit ins Haus. Die Lampen fingen an zu wackeln. Nippes fiel von Simsen und Regalen. Als er unten angekommen war, barsten 571
    vorn und hinten am Haus Fensterscheiben.
    »Bleibt draußen!« schrie er noch einmal, aber die Phantome hatten lange genug gewartet. Die Tür flog aus den Angeln und wurde den Flur entlang geweht, wo sie einen Spiegel zertrümmerte. Die Gespenster folgten ihr heulend. Mama schrie, als sie ihrer gewahr wurde, ihrer gierigen Gesichter, gleich Schlieren des Verlangens im Sturm. Klaffende Augenhöhlen, klaffende Mäuler. Als sie die fromme Frau schreien hörten,
    konzentrierten sie ihre Bösartigkeit in ihre Richtung. Tommy-Ray rief ihr eine Warnung zu, aber staubige Finger verwehten seine Worte zur Unkenntlichkeit und sausten dann an ihm vorbei zu Mamas Hals. Er wollte zu ihr gehen, aber der Sturm packte ihn und warf ihn zur Tür. Die Gespenster strömten immer noch zur Tür herein. Er wurde gegen den Strom durch ihre rasenden Gesichter geschoben, und dann über die
    Schwelle. Hinter sich hörte er Mama noch einen Schrei ausstoßen, als die letzten intakten Fenster im Haus mit einem ohrenbetäubenden Knall hinausflogen. Glas regnete um ihn herum herab. Er floh aus dem Regen, entkam aber nicht ohne Verletzungen.
    Aber

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