Jenseits des Bösen
kurz und atemlos.
»Es hat angefangen« sagte er. »Der Jaff wendet die ›Kunst‹
an.«
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»Wo?«
»Im Haus.«
»Und das hier?« sagte sie.
»Die letzte Verteidigung«, antwortete er. »Wir sind zu spät.«
Was nun, Baby? dachte sie. Du kannst es nicht mehr verhindern. Die Welt steht auf der Kippe, und alles rutscht abwärts.
»Wir sollten schnell verschwinden«, sagte sie zu Howie.
»Findest du?«
»Was können wir sonst tun?«
Sie sah zu dem Haus. Grillo hatte ihr gesagt, daß es ein Sammelsurium war, aber sie hatte trotzdem nicht mit einer derart amoklaufenden Architektur gerechnet. Die Winkel waren alle leicht schief, keine Gerade, die nicht ein paar Grad verzogen war. Dann begriff sie. Das war kein postmoderner Witz. Es war etwas in dem Haus, das es aus der Form zog.
»Mein Gott«, sagte sie. »Grillo ist immer noch da drinnen.«
Noch während sie sprach, krümmte sich die Fassade etwas mehr. Angesichts dieser seltsamen Erscheinung wurden die Kämpfer um sie herum bedeutungslos. Nur zwei Stämme, die wie tollwütige Hunde übereinander herfielen. Männerkram. Sie ging um das Geschehen herum und achtete nicht mehr darauf.
»Wohin gehst du?« fragte Howie.
»Rein.«
»Dort herrscht das Chaos.«
»Hier draußen etwa nicht? Ein Freund von mir ist da drinnen.«
»Ich komme mit dir«, sagte er.
»Ist Jo-Beth hier?«
»Sie war es.«
»Such sie. Ich hole Grillo, und dann hauen wir, so schnell es geht, hier ab.«
Sie ging, ohne auf eine Antwort zu warten, zur Tür.
Die dritte Macht, die in dieser Nacht im Grove entfesselt war, 588
hatte den Hügel halb erklommen, als Witt klar wurde, so tief der Schmerz des Verlustes seiner Träume auch war, er wollte heute nicht sterben. Er mühte sich mit dem Türgriff ab und war bereit, sich aus dem fahrenden Auto zu werfen, aber der Staubsturm in ihrem Kielwasser belehrte ihn eines Besseren. Er sah Tommy-Ray an. Das Gesicht des Jungen hatte nie
Intelligenz verraten, aber der leere Gesichtsausdruck jetzt war erschreckend. Speichel troff ihm von der Unterlippe, das Gesicht war schweißnaß. Aber er brachte beim Fahren einen Namen heraus. »Jo-Beth«, sagte er.
Diesen Ruf hörte sie nicht, aber dafür einen anderen. Einen Ruf aus dem Inneren des Hauses, von Verstand zu Verstand, von dem Mann, der sie gemacht hatte. Sie vermutete, daß er nicht an sie gerichtet war. Der Jaff wußte nicht einmal, daß sie in der Nähe war. Aber sie empfing ihn: einen Ausdruck des Entsetzens, den sie nicht mißachten konnte. Sie ging durch die eingedickte Atmosphäre zur Eingangstür, deren Rahmen sich nach innen bog.
Drinnen war das Bild, das sich bot, noch schlimmer. Das gesamte Innere hatte die Festigkeit verloren und wurde auf einen zentralen Punkt zugezogen. Dieser Punkt war nicht schwer zu finden.
Die ganze weich gewordene Welt strebte ihm zu.
Der Jaff war natürlich in dessen Zentrum. Vor ihm ein Loch in der Grundsubstanz der Wirklichkeit, welches seinen Einfluß auf Lebendes und Nichtlebendes gleichermaßen geltend
machte. Sie konnte nicht sehen, was auf der anderen Seite des Loches war, aber sie konnte es erraten: die Essenz; das Meer der Träume; und darin eine Insel, von der Howie und auch ihr Vater ihr berichtet hatten, wo Raum und Zeit lächerliche Gesetze waren und Geister wandelten.
Aber wenn das der Fall war - wenn er sein Ziel verwirklicht und die ›Kunst‹ erfolgreich angewendet hatte, um zu dem Wunder vorzustoßen, warum hatte er dann solche Angst?
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Warum versuchte er, vor dem Anblick zurückzuweichen, und riß mit den Zähnen an den eigenen Händen, damit sie die Materie losließen, in die seine Finger eingedrungen waren?
Ihre Vernunft sagte: Kehr um. Kehr um, solange du noch kannst.
Der Sog dessen, was sich auf der anderen Seite des Lochs befand, hatte sie bereits erfaßt. Sie konnte ihm eine Zeitlang widerstehen, doch dieses Fenster wurde immer kleiner. Aber sie konnte nicht dem Bedürfnis widerstehen, das sie überhaupt erst ins Haus gelockt hatte. Sie wollte die Schmerzen ihres Vaters sehen. Kein reizendes töchterliches Bedürfnis, aber er war auch nicht der reizendste Vater. Er hatte Leid über sie gebracht, und auch über Howie. Er hatte Tommy-Ray
vollkommen verdorben. Er hatte Mama das Herz gebrochen und ihr das Leben zur Hölle gemacht. Jetzt wollte sie ihn leiden sehen und konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Seine Selbstverstümmelung wurde immer panischer. Er spie Teile seiner Finger aus und schüttelte den Kopf hin und her,
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