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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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beide«, sagte sie.
    »Wie bin ich hierhergekommen? Und warum bist du hier?
    Du magst den Strand doch gar nicht.«
    »Dies ist nicht der Strand«, sagte sie. Sie nahm seinen Arm, die Bewegung brachte sie beide zum Torkeln wie Bojen. »Dies ist die Essenz, Tommy-Ray. Erinnerst du dich? Wir sind auf der anderen Seite des Lochs. Du hast uns durchgezogen.«
    Noch beim Sprechen sah sie die Erinnerungen in seinem Gesicht.
    »O mein Gott... O Jesus Christus...«, sagte er.
    »Erinnerst du dich?«
    »Ja. Mein Gott, ja.« Sein Schlottern wurde zu einem
    Schluchzen; er zog sie an sich und schlang die Arme um sie.
    Sie wehrte sich nicht. Es hatte wenig Sinn, rachsüchtig zu sein, wo sie doch beide in so großer Gefahr schwebten.
    »Psst«, sagte sie und ließ ihn das heiße, betroffene Gesicht an ihre Schulter legen. »Pssst. Wir können nichts dagegen tun.«
    603
    Er mußte nichts tun. Die Essenz hatte ihn, und er würde treiben und treiben und möglicherweise - vielleicht einmal - Jo-Beth und Tommy-Ray einholen. Vorerst gefiel es ihm noch, in dieser Unermeßlichkeit verloren zu sein. Seine Ängste - sogar sein ganzes Leben - wirkten daneben unbedeutend. Er lag auf dem Rücken und sah zum Himmel hinauf. Es war kein Nacht-himmel, wie er zuerst gedacht hatte. Es gab keine Sterne, keine Wolken, die einen Mond verbargen. Tatsächlich schien der Himmel anfangs vollkommen konturlos zu sein, aber als Sekunden verstrichen - oder Minuten; oder Stunden; er wußte es nicht genau, und es interessierte ihn auch nicht -, sah er Hunderte Meilen entfernt das subtilste Farbenspiel darüber hinweg-huschen. Verglichen mit dieser Vorstellung war die Aurora Bo-realis ein Kinderspiel. Er glaubte, in Intervallen Formen schweben und steigen zu sehen, gleich Teufelsrochen mit einer halben Meile Spannweite, die in der Stratosphäre weideten. Er hoffte, sie würden ein Stück weiter herunterkommen, damit er sie deutlicher sehen konnte, aber möglicherweise, überlegte er, hatten sie nichts Deutlicheres zu zeigen. Nicht alles war für das Auge sichtbar. Manche Anblicke entzogen sich Wahrnehmung und Analyse. Zum Beispiel alles, was er für Jo-Beth empfand.
    Das war ebenso schwer zu erfassen wie die Farben über seinem Kopf und die Formen, die dort spielten. Sie zu sehen war ebenso eine Angelegenheit des Empfindens wie der Netzhäute.
    Der sechste Sinn war Sympathie.
    Er war mit seiner Lage zufrieden, drehte sich behutsam im Äther und versuchte, darin zu schwimmen. Die Schwimmzüge funktionierten ausgezeichnet, aber er konnte kaum erkennen, ob er sich überhaupt von der Stelle bewegte, da er keinen Anhaltspunkt hatte, um die Bewegung daran zu messen. Die Lichter ringsum im Meer - Reisende wie er, vermutete er, obwohl sie keine Körper hatten - waren so undeutlich, daß er sie nicht als Markierungen benützen konnte. Waren sie möglicherweise träumende Seelen? Neugeborene, Geliebte und 604
    Sterbende, die alle im Schlaf in den Wassern der Essenz schwammen, um sich von einer Ruhe, die sie wie die Gezeiten durch den Sturm trug, in dem sie erwachen würden, wiegen und besänftigen zu lassen? Leben, die noch zu leben oder bereits verwirkt waren; Liebe, um die sie nach diesem Zwischenspiel ständig Angst haben würden, sie konnte schal werden oder vergehen. Er tauchte mit dem Gesicht unter die Oberfläche. Viele der Lichtgestalten waren weit unter ihm, manche so tief, daß sie nicht größer als die Sterne waren. Nicht alle bewegten sich in dieselbe Richtung wie er. Manche waren, wie die gewaltigen Rochen oben, in Gruppen, Schwärmen, die stiegen und sanken. Andere schwebten Seite an Seite. Die Liebenden, vermutete er; aber nicht allen der Träumenden hier, die neben der Liebe ihres Lebens schliefen, würde dieses Gefühl erwidert werden. Wahrscheinlich nur den wenigsten.
    Dieser Gedanke führte ihn zu dem Zeitpunkt zurück, als er und Jo-Beth hier geschwommen waren; und zu ihrem momentanen Aufenthaltsort. Er mußte aufpassen, daß die Ruhe ihn nicht lähmte, dafür sorgte, daß er sie vergaß. Er hob das Gesicht aus dem Meer.
    Und weil er das tat, gelang es ihm, einem Zusammenstoß um Sekundenbruchteile auszuweichen. Ein paar Meter von ihm entfernt trieb ein gräßlich gefärbtes Bruchstück, wahrscheinlich eins der Trümmer aus Vance' Haus. Und wieder ein paar Meter dahinter ein Stück Treibgut, noch beunruhigender, das so häßlich war, daß es hier nichts verloren hatte, aber nicht als etwas aus dem Kosm zu erkennen war. Es ragte um die
    eineinhalb Meter

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