Jenseits des Bösen
neue Gedanken füllten seinen Kopf aus - oder Schnappschüsse derselben. Diesmal keine Menschen, nur Orte, die auftauchten 598
und wieder verschwanden, als würde sein Verstand sie sichten und nach einem bestimmten suchen. Er fand schließlich, wonach er suchte. Eine verschwommene blaue Nacht, die sich rings um ihn herum zur Festigkeit verdichtete. Das Gefühl des Fallens hörte binnen eines Herzschlags auf. Er war fest an einem festen Ort, lief auf hallenden Dielen, und ein frischer Wind wehte ihm ins Gesicht. Hinter sich hörte er Lem und Richie seinen Namen rufen. Er lief weiter und sah dabei über die Schulter. Dieser Blick löste das Rätsel, wo er sich befand.
Hinter ihm war die Silhouette von Chicago zu sehen, deren Lichter in der Nacht gleißten, was bedeutete, daß der Wind in seinem Gesicht vom Lake Michigan wehte. Er lief an einem Pier entlang, wußte aber nicht, an welchem, und unten plätscherte das Wasser gegen die Pfosten. Das war das einzige Gewässer, mit dem er je vertraut gewesen war. Es beeinflußte das Wetter und die Luftfeuchtigkeit der Stadt; seinetwegen roch die Luft in Chicago anders als sonstwo im Land; es brütete Gewitter aus und schleuderte sie ans Ufer. Tatsächlich war der See so konstant, so unausweichlich, daß er selten darüber nachdachte. Wenn, dann betrachtete er ihn als einen Ort, wo Leute mit Geld ihre Boote hatten, und diejenigen, die ihr Geld verloren hatten, sich ertränkten.
Doch als er jetzt den Pier entlanglief und Lems Rufe hinter ihm leiser wurden, bewegte ihn der Gedanke an den am Ende des Piers wartenden See wie niemals zuvor in seinem Leben.
Er war klein; der See war riesig. Er war voller Widersprüche; der See nahm einfach alles in sich auf und unterschied nicht zwischen Matrosen oder Selbstmördern.
Er lief schneller, spürte aber dennoch kaum den Druck der Fußsohlen auf den Brettern; wie wirklich sich die Szene auch immer darbieten mochte, sie war letztendlich nicht mehr als eine Erfindung seines Verstands, welche dieser aus
Erinnerungsbruchstücken zusammensetzte, um ihm eine
Empfindung zu erleichtern, die ihn andernfalls in den 599
Wahnsinn getrieben haben würde: ein Trittbrett zwischen dem träumenden Wachsein des Lebens, das er hinter sich gelassen hatte, und dem wie auch immer gearteten Paradoxon vor ihm.
Je näher er dem Ende des Piers kam, desto stärker wurde diese Überzeugung. Seine Schritte, die bereits leicht waren, wurden noch leichter und mit jedem Mal ausgreifender. Die Zeit wurde weich und dehnte sich. Er überlegte sich, ob das Meer der Träume tatsächlich existierte, jedenfalls in dem Sinne, wie Palomo Grove existierte, oder ob der Pier, den er geschaffen hatte, nur in seinen Gedanken Bestand hatte.
Wenn dem so war, so trafen sich viele Seelen dort; Zehntau-sende Lichter bewegten sich im Gewässer vor ihm, manche brachen wie ein Feuerwerk zur Oberfläche, andere tauchten in die Tiefe. Auch Howie selbst hatte zu leuchten angefangen, wie er jetzt feststellte. Nichts, mit dem er prahlen konnte, aber seine Haut glomm eindeutig, ein schwaches Echo von
Fletchers Licht.
Die Barriere am Ende des Piers war nur noch wenige
Schritte von ihm entfernt. Dahinter kam das Gewässer, das er jetzt nicht mehr als See betrachtete. Dies war die Essenz, und es würde in wenigen Augenblicken über seinem Kopf
zusammenschlagen. Er hatte keine Angst. Ganz im Gegenteil.
Er konnte gar nicht schnell genug zu der Barriere gelangen und warf sich ihr entgegen, statt Zeit mit Schritten zu vergeuden.
Wäre noch ein weiterer Beweis vonnöten gewesen, daß dies alles nicht wirklich war, so hätte er ihn beim Aufprall bekommen; denn die Barriere zerschellte in lachende
Bruchstücke, als er sie berührte. Auch er selbst flog. Ein Sturzflug ins Meer der Träume.
Das Element, in das er eintauchte, unterschied sich dergestalt von Wasser, daß es ihn weder naß machte noch abkühlte. Aber er trieb dennoch darin, und sein Körper stieg ohne eigene Anstrengung durch gleißende Bläschen zur Oberfläche. Er hatte keine Angst davor zu ertrinken. Nur das allumfassende 600
Gefühl der Dankbarkeit, daß er hier sein durfte, wohin er gehörte.
Er sah über die Schulter - so viele Blicke zurück - zum Pier.
Dieser hatte seinen Zweck erfüllt und aus einem möglichen Entsetzen ein Spiel gemacht. Jetzt zerbarst er in Bruchstücke wie die Barriere.
Er verfolgte das Dahinscheiden des Piers glücklich. Er war endgültig losgelöst vom Kosm und schwamm in der Essenz.
Jo-Beth
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