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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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über die Wasseroberfläche auf und
    mindestens ebensoweit unter sie; eine knorrige, wächserne Insel, die wie blasse Fäkalien in dem reinen Meer schwamm.
    Er streckte die Arme aus, packte das Bruchstück vor ihm, warf sich darauf und ruderte. Die Bewegung brachte ihn näher an das Rätsel heran.
    Es lebte. Es war nicht einfach von etwas Lebendem
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    bewohnt, sondern bestand voll und ganz aus lebender Materie.
    Er hörte das Pochen von zwei Herzschlägen daraus. Die Oberfläche besaß den unverwechselbaren Glanz von Haut oder einem Derivat von Haut. Aber was es tatsächlich war, wurde erst deutlich, als er beinahe daran entlangstrich. Erst dann sah er die dünnen Gestalten - zwei der Partygäste -, die einander mit wütenden Gesichtern gepackt hielten. Es war ihm nicht vergönnt gewesen, in Gesellschaft von Sam Sagansky zu sein oder die zierlichen Finger von Doug Frankl auf der Tastatur zu sehen. Er sah lediglich zwei Feinde, die im Herz einer Insel eingeschlossen waren, die aus ihnen herausgewachsen zu sein schien, aus den Rücken, wie gewaltige Höcker. Aus den Gliedmaßen wie weitere Gliedmaßen, die keinen Schutz gegen den Feind boten, sondern mit dessen Fleisch verschmolzen.
    Das Gebilde trieb immer noch weitere Auswüchse, die
    Anfänge neuer Gebilde, welche auf den Gliedern aufbrachen, sich aber nicht an den Ursprüngen orientierten - einem Arm, einer Wirbelsäule -, sondern jeweils an der unmittelbar vorausgegangenen Form, so daß jede sukzessive Variation weniger menschlich und weniger fleischlich wurde. Der Anblick war faszinierend, nicht beunruhigend, und wie sich die Kontrahenten aufeinander konzentrierten, deutete darauf hin, daß sie keinerlei Schmerzen bei dem Vorgang empfanden. Als er das Gebilde keimen und wachsen sah, begriff Howie vage, daß er hier die Geburt von Festland miterlebte. Vielleicht würden die Kämpfer schließlich sterben und verwesen, aber das Gebilde selbst war diesem Verfall nicht so leicht ausgesetzt. Die Ränder der Insel und ihre Höhe erinnerten bereits mehr an Korallen als an Fleisch, hart und verkrustet.
    Wenn die Kämpfer starben, würden sie zu Fossilien werden -
    im Inneren einer Insel begraben, die sie selbst geschaffen hatten. Die Insel selbst würde weiterschweben.
    Er ließ das Trümmer-Floß los und ruderte weiter, an der Insel vorbei. Jetzt überzogen Treibgut und Wrackteile das 606
    Meer: Möbelstücke, Verputzbrocken, Lichtschalter. Er
    schwamm am Hals und Kopf eines Karussellpferds vorbei, dessen Glasaugen nach hinten sahen, als würden sie entsetzt die eigene Verstümmelung betrachten. Doch bei diesen
    Bruchstücken war keine Spur von Inselbildung zu erkennen. Es schien, als würde die Essenz nichts aus Dingen ohne Verstand erschaffen, aber er fragte sich, wie ihr Genie - mit der Zeit - auf Spuren des Denkens reagieren würde, welches die Gegenstände hervorgebracht hatte. Konnte die Essenz aus dem Kopf eines Holzpferds eine Insel erschaffen, die nach dem Schöpfer des Pferds benannt wurde? Alles war möglich.
    Nie war etwas Zutreffenderes gesagt oder gedacht worden.
    Alles war möglich.

    Jo-Beth wußte, sie waren nicht allein hier. Das war ein schwacher Trost, aber immerhin. Ab und zu hörte sie jemanden rufen, manchmal waren die Stimmen beunruhigt, aber ebenso häufig ekstatisch, als würde eine halb ehrfürchtige, halb entsetzte Gemeinde an der Oberfläche der Essenz treiben.
    Sie antwortete keinem Ruf. Zum einen, weil sie Formen vorübertreiben gesehen hatte - stets in der Ferne -, die darauf hindeuteten, daß Menschen hier keine Menschen blieben. Sie wurden zu Mißgestalten. Sie hatte genug damit zu tun, mit Tommy-Ray zurechtzukommen - der zweite Grund, weshalb sie nicht auf die Rufe antwortete -, sie mußte sich nicht noch zusätzliche Probleme aufhalsen. Er verlangte ihre ständige Aufmerksamkeit; er sprach mit ihr, während sie schwammen, und seine Stimme war vollkommen emotionslos. Er hatte zwischen Entschuldigungen und Schluchzen eine Menge zu erzählen. Manches wußte sie bereits. Wie schön es gewesen war, als ihr Vater zurückkehrte; wie verraten er sich fühlte, als Jo-Beth sie beide abgewiesen hatte. Aber er sagte noch viel mehr, und manches brach ihr das Herz. Er erzählte ihr zuerst von seinem Ausflug zur Mission; die Geschichte bestand anfangs weitgehend aus Bruchstücken, aber dann wurde sie zu einer Art innerem Monolog, als er die Schrecken beschrieb, die er erlebt und selbst vollbracht hatte. Sie wäre vielleicht versucht gewesen, das

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