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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Allerschlimmste davon gar nicht zu glauben - die Morde, die Vision seiner eigenen Verwesung -, wenn er nicht so vollkommen bei klarem
    Verstand gewesen wäre. Sie hatte ihn in ihrem ganzen Leben 607
    noch nicht so klar erlebt wie jetzt, als er ihr schilderte, wie es war, der Todesjunge zu sein.
    »Kannst du dich noch an Andy erinnern?« sagte er einmal.
    »Er war tätowiert... ein Schädel... auf der Brust, über dem Herzen?«
    »Ich erinnere mich«, sagte sie.
    »Er sagte immer, einmal würde er in Topanga auf den
    Wellen hinausgleiten - ein letzter Trip - und nie zurückkehren.
    Er sagte immer, er würde den Tod lieben. Aber das war gelogen, Jo-Beth...«
    »Ja.«
    »Er war ein Feigling. Er hat sich aufgeplustert, aber er war ein Feigling. Ich bin keiner, oder? Ich bin Mamas Junge...«
    Er fing wieder an zu schluchzen, heftiger denn je. Sie versuchte, ihn zu beschwichtigen, aber diesesmal half keine ihrer Besänftigungsmethoden.
    »Mama...«, hörte sie ihn sagen, »Mama...«
    »Was ist mit Mama?« sagte sie.
    »Es war nicht meine Schuld.«
    »Was denn?«
    »Ich habe nur nach dir gesucht. Es war nicht meine Schuld.«
    »Was, habe ich gefragt«, sagte Jo-Beth und stieß ihn etwas von sich. »Antworte mir, Tommy-Ray. Hast du ihr weh getan?«
    Sie dachte, daß er wie ein gescholtenes Kind aussah. Sein vorgeblicher Macho-Charakter war von ihm abgefallen. Er war ein eingeschüchtertes, rotznäsiges Kind. Erbarmenswert und gefährlich: die unausweichliche Mischung.
    »Du hast ihr weh getan«, sagte sie.
    »Ich will nicht der Todesjunge sein«, protestierte er. »Ich will niemanden umbringen.«
    »Umbringen?« sagte sie.
    Er sah sie unmittelbar an, als würde sein direkter Blick sie von seiner Unschuld überzeugen. »Ich war es nicht. Es waren meine Toten. Ich habe nach dir gesucht, und sie sind mir 608
    gefolgt. Ich konnte sie nicht abschütteln. Ich habe es versucht, Jo-Beth. Wirklich.«
    »Mein Gott!« sagte sie und stieß ihn aus ihrer Umarmung.
    Ihre Bewegung war nicht heftig, aber sie wühlte das Element der Essenz in einem Ausmaß auf, das in keinem Verhältnis zu der Bewegung stand. Sie merkte am Rande, daß ihr Ekel die Ursache dafür war; die Essenz stellte ihrer Wut etwas Gleichwertiges entgegen.
    »Wenn du bei mir geblieben wärst, wäre es gar nicht
    passiert«, protestierte er. »Du hättest bleiben sollen, Jo-Beth.«
    Sie entfernte sich wassertretend von ihm; ihre
    Gefühlsaufwallung brachte die Essenz zum Kochen.
    »Dreckskerl!« schrie sie. »Du hast sie umgebracht! Du hast sie umgebracht!«
    »Du bist meine Schwester«, sagte er. »Du bist die einzige, die mich retten kann!«
    Er streckte die Arme nach ihr aus, und sein Gesicht war ein Musterbeispiel des Kummers, aber sie konnte nur Mamas Mörder in ihm sehen. Er konnte seine Unschuld bis zum Ende der Welt beteuern - wenn sie das nicht schon hinter sich hatten -, sie würde ihm trotzdem nie verzeihen. Falls er ihren Ekel sah, so beschloß er, nicht darauf zu achten. Er rang mit ihr, griff mit den Händen nach ihrem Gesicht und dann nach ihren Brüsten.
    »Verlaß mich nicht!« schrie er. »Ich dulde nicht, daß du mich verläßt!«
    Wie oft hatte sie sein Benehmen entschuldigt, weil sie zwei Eier in derselben Gebärmutter gewesen waren? Seine
    Verderbtheit erkannt und ihm dennoch vergebend die Hand gereicht? Sie hatte sogar Howie dazu überredet, ihretwegen die Abscheu, die er für Tommy-Ray empfand, zu verleugnen. Es reichte. Dieser Mann mochte ihr Bruder sein, ihr Zwilling, aber er war des Muttermordes schuldig. Mama hatte den Jaff, Pastor John und Palomo Grove überlebt, um in ihrem eigenen Haus von ihrem eigenen Sohn getötet zu werden. Dieses Verbrechen 609
    konnte nicht vergeben werden.
    Er griff wieder nach ihr, aber diesesmal war sie bereit. Sie schlug ihm einmal ins Gesicht, dann noch einmal, und zwar so fest sie konnte. Er war so schockiert über die Schläge, daß er sie vorübergehend losließ, und sie entfernte sich von ihm und kickte ihm das schäumende Wasser ins Gesicht. Er riß die Arme vor sich, um sich zu schützen, und schon war sie außerhalb seiner Reichweite und merkte am Rande, daß ihr Körper nicht mehr so wendig war wie vorher, sah den Grund dafür aber nicht. Jetzt war nur wichtig, so weit wie möglich von ihm entfernt zu sein; zu verhindern, daß er sie wieder berührte, jemals wieder. Sie ruderte heftig und achtete nicht auf sein Schluchzen. Diesmal sah sie nicht hinter sich, jedenfalls erst, als sein Heulen nicht mehr zu

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