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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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und Tommy-Ray waren gemeinsam in das Schisma ge-stürzt, aber sie stellten sich die Reise und das Eintauchen im Geiste völlig verschieden vor. Das Entsetzen, das Jo-Beth empfunden hatte, als sie fortgerissen worden war, hatte sich in der Wolke verzogen. Sie vergaß das Chaos und empfand große Ruhe. Es war nicht mehr Tommy-Ray, der ihre Arme hielt, sondern Mama in jüngeren Tagen, als sie noch imstande gewesen war, der Welt entgegenzutreten. Sie schritten in sanftem Dämmerlicht dahin und spürten Gras unter den Füßen.
    Mama sang. Es konnte ein Psalm sein, aber sie hatte die Verse vergessen. Sie dachte sich Unsinn aus, um die Lücken zu füllen, und dieser Unsinn schien den Rhythmus ihrer Schritte zu haben. Ab und zu sagte Jo-Beth etwas, das sie in der Schule gelernt hatte, damit Mama wußte, was für eine gute Schülerin sie war. Alle Lektionen handelten vom Wasser. Daß es überall Gezeiten gab, selbst in Tränen, wie alles Leben im Meer seinen Anfang genommen hatte und daß Körper zum überwiegenden Teil aus Wasser bestanden. Die Kontrapunkte von Fakten und Liedern gingen eine lange, mühelose Weile weiter, aber sie spürte subtile Veränderungen in der Luft. Der Wind wurde böiger, sie roch das Meer. Sie hielt dem Wind das Gesicht entgegen und vergaß, was sie gelernt hatte. Mamas Lied war sanfter geworden. Jo-Beth konnte nicht mehr spüren, ob sie einander noch an den Händen hielten. Sie ging weiter, ohne zurückzusehen. Der Boden war nicht mehr grasbewachsen, 601
    sondern kahl, und irgendwo weiter vorne fiel er zum Meer hinunter ab, wo sich zahllose Boote mit Lichtern an Bug und Ma-sten zu wiegen schienen.
    Der Boden kippte ganz plötzlich ab. Aber sie hatte keine Angst, nicht einmal, als sie fiel. Sie wußte nur mit Sicherheit, daß sie Mama zurückgelassen hatte.
    Tommy-Ray befand sich in Topanga, wußte aber nicht, ob in der Abend- oder Morgendämmerung. Die Sonne stand zwar nicht am Himmel, aber er war nicht allein hier. Er hörte Mädchen im Dunst, die lachten und sich flüsternd miteinander unterhielten. Wo sie gelegen hatten, war der Sand unter seinen bloßen Füßen warm und von Sonnenöl klebrig. Er konnte die Brandung nicht sehen, wußte aber, wohin er laufen mußte. Er ging in Richtung Wasser und wußte, daß ihm die Mädchen zusahen. Wie immer. Er schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit.
    Wenn er draußen auf den Wellen war, in Bewegung, würde er ihnen vielleicht strahlend zulächeln. Und auf dem Rückweg zum Strand hinauf würde er eine davon glücklich machen.
    Aber als jetzt die Wellen vor ihm sichtbar wurden, merkte er, daß hier etwas nicht stimmte. Nicht nur war der Strand düster und das Meer dunkel, sondern es schienen auch Leichen in der Brandung zu treiben, deren Fleisch, was am schlimmsten war, phosphoreszierte. Er wurde langsamer, wußte aber, er konnte nicht anhalten und umkehren. Niemand am Strand sollte denken, daß er Angst hatte, schon gar nicht die Mädchen. Aber er hatte Angst; schreckliche Angst. Eine radioaktive Scheiße war im Meer. Die Surfer waren vergiftet von den Brettern gefallen und wurden von den Wogen ans Ufer gespült, auf denen sie reiten wollten. Er konnte sie jetzt deutlich sehen, ihre Haut war an manchen Stellen silbern und an anderen schwarz, ihre Haare wie blonde Heiligenscheine. Ihre Mädchen waren bei ihnen; auch sie waren tot, wie die Surfer in der verfärbten Gischt. Er wußte, ihm blieb keine andere Wahl, als sich zu ihnen zu gesellen. Die Schande, wenn er sich umdrehte, und wieder zum 602
    Strand hinaufging, wäre schlimmer als zu sterben. Hinterher würden sie alle Legenden sein. Er und auch die toten
    Wellenreiter, die von derselben Flutwelle getragen wurden. Er wappnete sich und trat ins Meer, das auf der Stelle tief wurde, als wäre der Strand einfach unter seinen Füßen weggekippt.
    Das Gift brannte bereits in seinem Körper; er konnte sehen, wie sein Körper heller wurde. Er fing an zu hyperventilieren, und jeder Atemzug wurde schmerzhafter als der vorhergehende. Etwas strich an seiner Seite entlang. Er drehte sich um und dachte, es wäre ein weiterer toter Surfer, aber es war Jo-Beth. Sie sagte seinen Namen. Er fand keine Worte, um ihr zu antworten. Er bemühte sich so sehr, seine Angst nicht zu zeigen, aber er konnte nicht anders. Jetzt pißte er ins Meer; seine Zähne klapperten.
    »Hilf mir«, sagte er. »Jo-Beth. Du bist die einzige, die mir helfen kann. Ich sterbe.«
    Sie sah ihm ins schlotternde Gesicht.
    »Wenn du stirbst, sterben wir

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